EU-Länder streiten beim Gipfel über Linie zur Türkei
Im Streit mit der Türkei über Erdgasvorkommen im östlichen Mittelmeer haben die EU-Staaten am Donnerstag stundenlang um eine gemeinsame Linie gerungen.
Das Wichtigste in Kürze
- Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) warb beim Sondergipfel in Brüssel um ein konstruktives Verhältnis zu dem Nato-Staat.
Vor allem Zypern und Österreich forderten hingegen neue Sanktionen gegen die Türkei, die offiziell immer noch EU-Beitrittskandidat ist.
EU-Ratschef Charles Michel unterbrach die Sitzung der 27 Staats- und Regierungschefs am Abend für knapp zwei Stunden, um in kleinen Runden einen Kompromiss zu suchen - zunächst ohne greifbaren Erfolg. Doch daran hing auch eine zweite wichtige aussenpolitische Frage: die Verhängung von längst angekündigten Sanktionen gegen Akteure in Belarus wegen Wahlfälschung und Gewalt gegen die Opposition. Zypern hatte ein Veto eingelegt, um auch gegen die Türkei Strafmassnahmen durchzusetzen.
Hintergrund ist, dass die Türkei im östlichen Mittelmeer Erdgasfelder erforschen lässt, was Griechenland und Zypern für illegal halten. Die EU hatte der Türkei deshalb Ende August ein Ultimatum gesetzt und mit zusätzlichen Sanktionen gedroht. Merkel hatte versucht zu vermitteln.
Pünktlich zum Gipfel wurde bekannt, dass sich Griechenland und die Türkei unter dem Dach der Nato - der beide Staaten angehören - angenähert haben: Sie hätten sich auf einen Mechanismus zur Vermeidung militärischer Zwischenfälle im östlichen Mittelmeer geeinigt, teilte das Bündnis mit. Unter anderem solle eine neue «Hotline» Konflikte auf See und in der Luft vermeiden. Eine ähnliche Annäherung mit Zypern gibt es aber nach EU-Angaben nicht.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sagte, sie sei sicher, dass sich der Gipfel hinter Griechenland und Zypern stelle. An die Türkei richtete sie einen Appell: «Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder steigen die Spannungen weiter, das wollen wir nicht. Oder es gibt eine Deeskalation und wir bewegen uns hin zu einer konstruktiven Beziehung. Das wollen wir.» Für beide Fälle habe die EU die nötigen Instrumente zur Hand. Ähnlich äusserte sich der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis.
Erste Einreiseverbote und Vermögenssperren wegen der türkischen Bohrungen vor Zypern hatte die EU schon im Februar verhängt. Bereits 2019 wurde beschlossen, die Vergabe von EU-Mitteln an Ankara einzuschränken und Verhandlungen über ein Luftverkehrsabkommen auszusetzen.
Österreichs Kanzler Sebastian Kurz forderte nun ebenfalls neue Strafmassnahmen und begründete dies nicht nur mit dem Streit über die Erdgas-Erkundungen, sondern auch mit Drohungen in der Flüchtlingspolitik. Ankara habe versucht, «die Europäische Union zu erpressen» und das sei nicht akzeptabel. Auch für den Abbruch der Beitrittsgespräche werde er sich erneut stark machen, sagte Kurz.
Etwa zeitgleich meldete sich Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Türkei zu Wort und sagte: «Die Europäische Union ist als Geisel der Frechheiten Griechenlands und der griechischen Zyprer zu einem einflusslosen und oberflächlichen Gebilde ohne Weitblick verkommen.» Es gebe kein einziges Problem in der Region, das auf Initiative der EU gelöst worden sei.
EU-Ratschef Michel hatte den zweitägigen Sondergipfel einberufen, um die EU als einige Gemeinschaft und als starken Akteur auf der Weltbühne zu präsentieren. Mit der Türkei und Belarus standen auch die Beziehungen zu China, die Vergiftung des Oppositionellen Alexej Nawalny in Russland und der Konflikt in Berg-Karabach auf der Tagesordnung. Nach der Sitzungspause stellte Michel das Thema Türkei offenbar zunächst zurück und befasste den Gipfel mit dem Konflikt um die Region Berg-Karabach, wie Diplomaten sagten. Ziel der EU dort ist eine sofortige Waffenruhe.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte, nach seinen Informationen seien in Berg-Karabach auch Kämpfer dschihadistischer Gruppen aus Syrien aktiv, die über die Türkei in die Region gekommen seien. Das sei eine «sehr ernste Sache».
Thema des zweitägigen Gipfels ist zudem die «Strategische Autonomie» der EU bei wichtigen Gütern wie Medikamenten, aber auch bei digitaler Infrastruktur. Ziel sind dem Entwurf der Gipfelerklärung zufolge zum Beispiel eigene europäische Computer-Clouds sowie ein einheitliches europäisches System zur elektronischen Identifizierung - genannt e-ID.