Experte: So könnte die neue Frankreich-Regierung aussehen
Die Parlamentswahl in Frankreich ist durch, die Regierungsbildung bleibt unklar. Experte Gilbert Casasus erklärt, wie es weitergehen könnte.
Das Wichtigste in Kürze
- Bei den Parlamentswahlen in Frankreich hat keine Partei die Mehrheit erreicht.
- Premierminister Gabriel Attal hat seinen Rücktritt verkündet.
- Die neue Regierungskoalition könnte schwierig werden.
Die politische Situation hat sich durch die Parlamentswahlen in Frankreich zugespitzt. Entgegen den Erwartungen konnte das Linksbündnis «Neue Volksfront» den zweiten Wahlgang gewinnen. Damit scheint der Rechtsrutsch im Land verhindert.
Keiner der Parteien ist es gelungen, die Mehrheit für sich zu gewinnen. Schlittert das Land nun in ein Chaos? Für den Frankreich-Experten Gilbert Casasus ist das nicht der Fall. Der emeritierte Direktor des Zentrums für Europastudien an der Universität Freiburg schätzt die Lage bei Nau.ch ein.
Nau.ch: Bricht nach dem Rücktritt von Gabriel Attal in Frankreich Chaos aus?
Gilbert Casasus: Jeder amtierende Regierungschef gibt nach einer Parlamentswahl seinen Rücktritt bekannt. Umso mehr, wenn er wie Gabriel Attal über keine Mehrheit verfügt und dementsprechend nicht mehr in der Lage ist, sein Amt auszuüben. Dennoch wird er voraussichtlich noch einige Wochen im Amt bleiben, um beispielsweise die laufenden Geschäfte bis zur Pariser Olympiade zu verwalten. Von Chaos darf somit kaum die Rede sein.
Nau.ch: Wer könnte das Land nun regieren?
Gilbert Casasus: Um diese Frage zu beantworten, zerbrechen sich alle den Kopf. Es zeichnet sich keine eindeutige Mehrheit ab, weil es keiner Partei gelungen ist, eine absolute Mehrheit zu gewinnen. Demzufolge sollte es zur Bildung einer Regierungskoalition kommen in einem Land, das von solchen Regierungskoalitionen wenig hält. Diese entsprechen weder dem Inhalt und dem Geist der Verfassung noch dem Habitus der französischen Parteilandschaft.
Es wird zum Paradoxon: Frankreich hat ein Mehrheitswahlsystem, das nun zur Bildung einer Regierung führt, welche im Normalfall aus einer Proporzwahl entsteht. Deswegen kann es zu einem Sammelsurium von Parteien kommen, die in der linken Mitte einen gemeinsamen Nenner finden. Die politische Heimat des nächsten Premierministers oder Premierministerin ist links.
Nau.ch: Wie gross ist der Druck auf Mitte-Links, dass sich etwas ändert?
Gilbert Casasus: Die zukünftige französische Regierung ist zum Erfolg verdammt. Und um diesen Erfolg zu ermöglichen, stellt ein Mitte-links-Bündnis die bestmögliche Lösung in Aussicht. Vor allem, weil die Franzosen sehr stark auf eine bessere und gerechtere Sozialpolitik hoffen.
Nau.ch: Ist Linksaussen-Politiker Jean-Luc Mélenchon als Premier eine Option?
Gilbert Casasus: Mélenchon hat keine Chance, Premier zu werden. Und dies zum grossen Glück nicht!
Er möchte sich als Retter eines völlig chaotischen Frankreichs profilieren. Dabei geht er über alle Leichen und ist sogar bereit, alte trotzkistische* Methoden anzuwenden, damit er ans Ruder kommt. Sein demokratisches Verständnis stellt sich als Gefahr für Frankreich und darüber hinaus für ganz Europa heraus.
Nau.ch: Wird Emmanuel Macron an Einfluss verlieren?
Gilbert Casasus: Als vor zehn Tagen von einer absoluten Mehrheit für den Rassemblement National noch die Rede war, stand die Frage eines Rücktrittes von Emmanuel Macron zur Diskussion. Dies ist seit gestern Abend nicht mehr der Fall. Obwohl Macron innenpolitisch eine Niederlage erlitt, kann er nun auf europäischer Ebene erneut punkten. Er hat seinen Partnern bewiesen, dass gemäss dem französischen Republikanismus das französische Volk eine rechtsextreme Regierung ablehnt.
Dies unterscheidet ihn beziehungsweise seine Wähler und Wählerinnen von anderen europäischen Ländern. Zum Beispiel von Ungarn, Italien und vielleicht demnächst Österreich. Macron hat sich somit – auch dank des linken Erfolgs – zum europäischen Symbol einer Brandmauer gegen rechts profiliert.
Nau.ch: Wie stark bleiben die Rechtsradikalen um Marine Le Pen?
Gilbert Casasus: Die Rassemblement National ist zur stärksten Partei Frankreichs geworden und wird im Parlament die grösste Fraktion zusammenstellen. Dennoch hat die Partei Le Pens eine herbe Niederlage erlitten, wofür sie selbst schuld ist.
Sie zeigte immer mehr ihr wahres Gesicht und stellt nach wie vor eine demokratische Bedrohung für das Land dar. Umso wichtiger ist der Erfolg der zukünftigen Regierung Frankreichs, damit sich Marine Le Pen 2027 nicht in der Lage befindet, sich als «Retterin der Nation» zu präsentieren.
Nau.ch: Was bedeuten die Wahlen für die Schweiz?
Gilbert Casasus: Dass Frankreich ein demokratisches Land bleibt, eine hochpolitische Nation, die immer für eine Überraschung gut ist. Auch wenn es viele Schweizer und Schweizerinnen weder verstehen noch wahrnehmen wollen.
Im Gegensatz zur Schweiz ist mit keiner Beteiligung rechter Kräfte in der Regierung zu rechnen, auch wenn Frankreich einige Lehren vom demokratischen System der Schweiz ziehen sollte.
*Von Trotzkismus: Diese politische Bewegung versteht sich als «rein» marxistisch. Sie verwenden demokratische Organisationen, um ihre Gesinnung durchzusetzen.