Fahrrad-Boom im Autoland Italien

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Italien,

Ins Büro oder zum Einkaufen mit dem Fahrrad? Für viele Italiener war das lange ein Unding. Schlagloch-Pisten, drängelnde Autofahrer und Smog - wer mag da schon radeln? Doch 2020 ändert sich vieles.

Radfahrer sind auf der Strasse vor dem Kolosseum unterwegs. Foto: Cecilia Fabiano/LaPresse/AP/dpa
Radfahrer sind auf der Strasse vor dem Kolosseum unterwegs. Foto: Cecilia Fabiano/LaPresse/AP/dpa - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Coronakrise traf Italien hart.
  • Jetzt erlebt das Land einen Zweirad-Boom.
  • Weil im ÖV immer noch Beschränkungen herrschen, steigen die Italiener aufs Rad um.

Die Szene wirkt ein wenig wie beim Giro d'Italia. Doch heute läuft am Kolosseum, dem Wahrzeichen Roms, kein Radrennen, sondern die Römer selbst radeln vorbei: Familien, Paare, Sportler. Viele tagen Sonnenbrillen, wenige Mundschutzmasken.

Velos statt Autos am Kolosseum

In anderen Teilen der Hauptstadt steigt die Zahl der Radfahrer ebenfalls, und nicht nur dort. Italien erlebt einen Zweirad-Boom, den vor Monaten noch niemand erwartet hat. Mit dem Ende des Corona-Lockdowns, so scheint es, ändert sich im Land von Ferrari, Fiat und Vespa etwas Gravierendes.

Coronavirus - Italien
18.05.2020, Italien, Mailand: Menschen radeln vor der gotischen Kathedrale Duomo. (zu dpa: "Keine Angst vor Schlaglöchern - Fahrradboom im Autoland Italien") Foto: Luca Bruno/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ - dpa

«So einen Umschwung habe ich noch nicht erlebt», sagt Alessandro Tursi, Präsident des Fahrradverbandes Fiab. Der Architekt und Stadtplaner ist überrascht. Er berichtet, dass er seit Jahren mit mässigem Erfolg bei Entscheidern in Rom und andernorts für eine grüne Verkehrspolitik warb. Gesetze, Bürokratie, Autofahrerlobby, überall seien die Hürden gegen Innovationen hoch gewesen. «Im April und Mai, in der heftigen Covid-Krise, war das plötzlich anders, und leicht.»

Veränderungen in Verkehrsregeln

Die italienische Regierung erliess Sonderdekrete, um die Wirtschaft nach der Vollbremsung in Schwung zu bringen. Darin seien Veränderungen der Verkehrsregeln enthalten, die fahrradfreundlich seien, berichtet Tursi. Ausserdem versprach Ministerpräsident Giuseppe Conte den Menschen in den Zentren, besonders in Städten mit mehr als 50 000 Einwohnern, beim Kauf von Rädern und E-Scootern einen Zuschuss bis 60 Prozent des Preises, höchstens 500 Euro.

Da Busse und Bahnen wegen der Abstandsregeln weniger Passagiere mitnehmen dürfen, sollen die Bürger vermehrt auf Zweiräder umsteigen. Angesichts ständiger Staus waren viele Städte zu Stosszeiten vor der Krise eh am Limit. Ausserdem soll das Geldgeschenk ein Anschub für die Branche sein. Italien ist bei der Radproduktion europaweit spitze.

Volle Busse wegen Coronavirus unbeliebt

Dazu kommt: Vielen Italienern sind Schlangen an Bahnhöfen und Gedränge in Bussen dieser Tage in Covid-Zeiten unangenehm. Also, warum nicht aufs Rad steigen? Zumal Radfahren während der Sperren in den leer gefegten Zentren mehr Spass machte als vorher. Schon 2019 waren die Radverkäufe gestiegen. Nach der Neu-Öffnung im Mai wurden die Läden dann landesweit gestürmt. Während Deutschland vom «Mini-Boom» sprach, war in Italien von der «Revolution» die Rede.

streik italien
Volle Busse und Züge sind den Italienern noch suspekt. - dpa-infocom GmbH

Händler aus der lombardischen Metropole Mailand jubelten in der Zeitung «Repubblica» über Käufer, die früher nicht einmal daran gedacht hätten, sich aufs Rad zu setzen. Der Industrieverband Ancma erwartete für Mai ein Umsatzplus von 60 Prozent - und aufs Jahr gerechnet könnte ein Anstieg bis 25 Prozent möglich sein.

Mailand, im Winter oft eine Smog-Hochburg, kündigte an, bis September rund 25 Kilometer Radwege zu schaffen. Bis Ende des Jahres sollen weitere Strecken folgen. Auch in Rom liess Bürgermeisterin Virginia Raggi Bautrupps ausrücken, um Markierungen zu machen und Pisten anzulegen. Die Hauptstadt will rasch - bei grösserer Fläche als Mailand - 150 Kilometer Radstreifen schaffen. Die 41-Jährige von der Fünf-Sterne-Bewegung postet regelmässig auf Facebook Videos neuer Wege. Wobei manche Römer bei Raggi aus Erfahrung viel heisse Luft vermuten. Zuvor hatte das Verkehrsministerium den Städten nach Berichten das Signal gegeben, dass sie Raum von Strassen und Parkplätzen umwidmen dürften.

Fahrräder in Italien eigentlich eher Sportgeräte als Transportmittel

Eigentlich galten Räder in Italien mehr als Sportgeräte denn als Transportmittel. Zudem liegt das Mittelmeerland bei der Verkehrssicherheit unter dem Durchschnitt in der Europäischen Union. Zwar gingen die Opferzahlen im Vergleich zu 1980 zurück. Doch eine EU-Statistik verzeichnet dort 55 Tote pro Jahr pro eine Million Einwohner (2018). Deutschland steht zwar nicht top da, die Strassen sind aber mit 39 Verkehrstoten pro Million deutlich sicherer.

Coronavirus - Schlagloch in Rom
23.05.2020, Italien, Rom: Ein Fahrrad steht an einem der vielen Schlaglöcher vor dem Kolosseum. (zu dpa: "Keine Angst vor Schlaglöchern - Fahrradboom im Autoland Italien") Foto: Petra Kaminsky/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ - dpa

In Italien sind Fussgänger und Zweiradfahrer, wie in anderen Ländern, besonders gefährdet. Wobei die Fahrradfreundlichkeit und die Qualität des Wegenetzes von Norden nach Süden abnimmt und die Tiefe der Schlaglöcher zunimmt, wie Rad-Lobbyist Tursi leicht polemisch sagt: «Südtirol lässt sich mit Skandinavien vergleichen. Dann kommt ein Mittelfeld, und ab Rom fühlt sich das Radfahren an wie in Afrika.»

Im Zentrum der Hauptstadt sind die uralten Kopfsteinpflasterstrassen schon für sich genommen eine Herausforderung. Dazu kommt, dass Wagen ohne Rücksicht aus Parklücken stossen, Radfahrer von Motorrädern geschnitten werden und Busse sie dreist abdrängen.

Weniger Unfälle und weniger Abgase in der Luft wurden bisher hauptsächlich zu speziellen Anlässen wie dem Weltfahrradtag (3. Juni) oder nach tödlichen Unglücken zum Thema. So protestierten Verbände am 23. Februar, kurz vor den Corona-Sperren, vor dem Kolosseum für mehr Schutz im Verkehr. Alessandro Malagesi, einer der Veranstalter, war damals skeptisch, ob seine Landsleute je freiwillig ihren Platz auf den Strassen mit mehr Rädern teilen wollten. Jetzt sagt der Mittvierziger: «Wenn man mit den Veränderungen nicht anfängt, wird sich nie etwas tun. Der Verkaufsboom ist ein gutes Zeichen.»

Auch Nada Franco, die in einem Fahrradgeschäft in der Via del Cardello unweit vom Kolosseum einen Kunden nach dem anderen bedient, meint: «Hoffen wir, dass diese Entwicklung wirklich andauert.»

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