In Grossbritannien herrscht eine Zeit des politischen Wandels, die die Bevölkerung vor grosse Herausforderungen stellt
Rishi Sunak ist seit rund einem Jahr britischer Premier.
Rishi Sunaks TV-Interview sorgt für Spott und verstärkt die Zweifel an seiner Regierungsfähigkeit. (Archivbild) - Danny Lawson/PA Wire/dpa

Nicht lange ist es her, da gab der britische Premierminister Rishi Sunak ein folgenreiches Fernsehinterview. Seine Familie sei damals mit sehr wenig eingewandert und habe alles in Bildung investiert, erzählte der 44-Jährige. Welche Dinge geopfert worden seien? Der Premier druckste etwas herum. «Es gab viele Sachen, die ich als Kind gewollt hätte, aber nicht haben konnte», sagte Sunak. Er gab dann eine Antwort, die seitdem oft verspottet wurde. «Sky TV, das war etwas, was wir in unserer Jugend nie hatten.»

Andere Politiker gaben ähnliche Antworten, aber am Multimillionär Sunak, dessen Schwiegervater zu den wohlhabendsten Männern Indiens gehört, blieb die Aussage hängen. Seiner Konservativen Partei droht nun nach 14 Jahren und fünf Regierungschefs am 4. Juli die Abwahl. Wer verstehen will, woran das liegt, kann zum Beispiel in Dover anfangen.

Welches Image dem Premier anhaftet

In der Küstenstadt stehen mehrere Geschäfte in der Einkaufsstrasse leer, Touristen besuchen die berühmten weissen Klippen, und es gibt Fish and Chips für 9,80 Pfund (11,60 Euro). In London zahlt man auch mal doppelt so viel. Auf dem Marktplatz sitzen zwei ältere Ladys.

Sunak sei in Ordnung, findet eine 84-Jährige, «aber er lebt nicht in der realen Welt». Er sei ja reicher als der König. Und dann erzählt sie die Szene aus dem Fernsehinterview nach und verdreht die Augen. Sie habe immer die konservativen Tories gewählt, sagt die Rentnerin, aber diesmal wisse sie nicht, was sie machen werde.

«Die Leute haben zu kämpfen, wissen Sie?»

Meinungsumfragen sagen Sunaks Partei eine verheerende Niederlage voraus. Einem Modell von Yougov zufolge könnte die Partei von gut 360 Sitzen im Parlament auf etwa 100 abstürzen. Keir Starmer von der sozialdemokratischen Labour-Partei dagegen hat gute Chancen, der nächste Premierminister zu werden.

Manche Leute, die sich in Dover auf der Strasse ansprechen lassen, wirken desillusioniert. Niemand von den Kandidaten werde seine Stimme bekommen, erzählt ein Mann von der Strassenreinigung. «Ich glaube an keinen von denen. Die tun nichts fürs Land.» So sei es im Vereinigten Königreich immer gewesen. «Die Leute haben zu kämpfen, wissen Sie?» Die Mieten und Immobilienpreise seien hoch. Die Politiker müssten mehr Wohnraum schaffen. «Und na ja, sie müssen im Grunde das Land in Ordnung bringen.»

Warum manche von Broken Britain sprechen

Manches an Grossbritannien ist so charmant, wie Reiseführer es versprechen. Paläste, Pubs und Leute, die sich beim Busfahrer bedanken und gerne Small Talk halten. Bei einer Militärparade zu Ehren von König Charles III. betonten neulich zwei Besucherinnen, sie seien stolz, britisch zu sein. Den Union Jack tragen sie hier gerne vor sich her.

Gleichzeitig existieren andere Seiten. Der Brexit und die Politik der Kurzzeitregierungschefin Liz Truss haben der Wirtschaft zugesetzt. Der staatliche Gesundheitsdienst NHS ist überlastet, und in vielen Wohnungen stehen Anti-Schimmel-Sprays. Ex-Premier Gordon Brown warnt regelmässig vor der Armut im Land. Und die Tafeln des Trussell Trust haben im vergangenen Jahr doppelt so viele Notfallpakete verteilt wie vor fünf Jahren.

«Einige Wähler werden das Problem auf Migranten schieben»

«Die Wirtschaft ist fast immer das wichtigste Thema bei Parlamentswahlen im Vereinigten Königreich», erklärt Politikwissenschaftler Mark Garnett von der Universität Lancaster. In diesem Jahr sei es vor allem die Inflation. Die Konservativen hätten versucht, sich darum zu kümmern, etwa indem sie geholfen hätten, die hohen Energiepreise abzufedern. Die Preise in Geschäften seien aber trotz gesunkener Inflationsrate noch viel höher als vor zwei Jahren.

Wohnraum spiele in diesem Wahlkampf eine grössere Rolle als sonst, sagt Garnett. Das liege daran, dass das Problem – welches die Tories nicht angegangen seien – nun entscheidende Wählerschichten betreffe, etwa durch höhere Hypothekenzinsen und Mieten. Das zugrundeliegende Problem sei ein chronischer Wohnungsmangel, der das Scheitern der konservativen Politik der freien Märkte seit Premierministerin Margaret Thatcher zeige.

«Einige Wähler werden das Problem auf Migranten schieben», sagt Garnett. Aber auch davon können die Tories seiner Einschätzung nach nicht profitieren, weil sie ihr Versprechen, die Zuwanderung zu reduzieren, nicht eingelöst hätten. Sunaks Beharren auf einen Abschiebedeal mit Ruanda, der von Gerichten und Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert wurde, konnte die Umfragen nicht herumreissen. Und dürfte bei einem Regierungswechsel vom Tisch sein.

Was auf die nächste Regierung zukommt

Zuwanderung erhöhe den Druck auf öffentliche Dienstleistungen in einigen Teilen des Landes und trage zur Wohnraumkrise bei, sagt Garnett. Für Wähler, die positiv auf kulturelle Vielfalt schauten und wüssten, dass etwa im Gesundheitssystem Arbeitskräfte gebraucht würden, sei das ebenfalls Thema.

Auch in Dover, wo der Tag langsam ausklingt, sprechen die Menschen das Thema Migration an, ebenso die Wartezeiten beim NHS, die Lage der Innenstadt oder Verteilungsfragen. Ein Mann geht in den Imbiss «Roosters Inn». «Die Konservativen ignorieren die Leute auf der Strasse», findet er. Sunak alleine könne man dafür nicht verantwortlich machen, es sei die ganze Regierung und das schon seit Jahren. «Bis die es nicht schaffen, was zu ändern, will ich keine konservative Regierung mehr sehen.»

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