Die Vorgeschichte des Anschlags von Wien gewinnt an Brisanz. Die Behörden in der Slowakei hatten den österreichischen Fahndern einen wichtigen Tipp gegeben. Die Opposition fordert Aufklärung.
Polizisten sichern nach dem Terroranschlag in Wien das Gebiet in der Nähe des Tatorts ab. Foto: Hans Punz/APA/dpa
Polizisten sichern nach dem Terroranschlag in Wien das Gebiet in der Nähe des Tatorts ab. Foto: Hans Punz/APA/dpa - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Im Vorfeld des Wiener Terroranschlags sind Hinweise auf mögliche Pläne des 20-jährigen Attentäters übersehen worden.
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Es sei «offensichtlich einiges schief gegangen», räumte Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) am Mittwoch in Wien ein. Er kündigte die Einsetzung einer unabhängigen Untersuchungskommission an.

Konkret war der spätere Attentäter der slowakischen Polizei nach eigenen Angaben bei einem versuchten Munitionskauf aufgefallen. Nehammer erklärte zugleich, dass sich die «Ein-Täter-Theorie» bestätigt habe. Ob die Hauptsynagoge, in deren Nähe der Attentäter am Montagabend vier Menschen erschossen und mehr als 20 verletzt hat, überhaupt eine Rolle als Ziel spielte, blieb weiterhin offen.

Die Polizeidirektion in Bratislava schrieb auf Facebook: «Die slowakische Polizei erhielt im Sommer die Information, dass verdächtige Personen aus Österreich versuchten, in der Slowakei Munition zu kaufen. Es gelang ihnen aber nicht, den Kauf zu realisieren.» Die Information sei unverzüglich der Polizei in Österreich übermittelt worden.

Laut einem der Nachrichtenagentur APA vorliegenden internen Schreiben der im slowakischen Innenministerium angesiedelten Kriminalagentur informierten die Behörden am 23. Juli ihre österreichischen Kollegen. Die österreichische Polizei habe am 10. September geantwortet und einen der beiden Kaufinteressenten als den wegen Terrorismus vorbestraften späteren Attentäter identifiziert.

Die oppositionelle SPÖ forderte vom Wiener Innenministerium nach dem ersten Bekanntwerden Aufklärung. «Was ist mit diesen Informationen dann passiert? Wie kann es sein, dass der Innenminister dann nicht sofort tätig wurde?», fragte der SPÖ-Fraktionschef Jörg Leichtfried.

Deutlich wurde auch, dass die Arbeit der Geheimdienste nicht so funktioniert, wie sie sollte. Sein Amtsvorgänger von der rechten FPÖ, Herbert Kickl, habe die Nachrichtendienste mit seiner Arbeit praktisch zerstört, so Nehammer. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) sei durch Kickl in seinen Grundfesten erschüttert worden. Die Zusammenarbeit anderer Geheimdienste mit Österreich galt in der Kickl-Ära als schwer belastet.

Zusammen mit Kanzler Sebastian Kurz hatte Nehammer am Mittwoch den schwer verletzten Polizisten im Krankenhaus besucht. Mit Verweis auf die nun ausgewerteten 20 000 Videos vom Montagabend sagte er, sie zeigten, «mit welcher Brutalität und Grausamkeit der Täter vorgegangen ist».

Unter den vier Getöteten ist auch eine 24-jährige deutsche Studentin, die als Kellnerin jobbte. Ein weiteres Opfer stammt wie die Familie des Täters aus Nordmazedonien. Der 20-Jährige war gleichfalls Angehöriger der albanischen Minderheit in Nordmazedonien und hatte sein Abitur in Österreich gemacht. Nach Medienberichten hatte er vor einem der Innenstadtlokale eine Zigarette geraucht, als ihn der Attentäter erschoss.

Laut Innenminister wird gegen 14 Personen aus dem Umfeld des Attentäters wegen der Verdachts der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung ermittelt. Sie seien zwischen 18 und 28 Jahre alt, hätten Migrationshintergrund und seien teils nicht-österreichische Staatsbürger, sagte Nehammer weiter.

Als Reaktion auf den Terroranschlag in Wien wird der Nationalrat an diesem Donnerstag zu einer Sondersitzung zusammentreten. Dabei wollen Bundeskanzler Kurz, Vizekanzler Werner Kogler, Innenminister Nehammer und Justizministerin Alma Zadič Erklärungen abgeben.

Aus Anlass der vorzeitigen Entlassung des Attentäters, der als Anhänger der Terrormiliz IS eine 22-monatige Haftstrafe verbüssen sollte, ist eine lebhafte Debatte ausgebrochen. Nehammer betonte, dass es dem 20-Jährigen perfekt gelungen sei, seine Betreuer im Deradikalisierungsprogramm zu täuschen. Das für Deradikalisierung von Extremisten zuständige Netzwerk Derad erklärte, die vorzeitige Haftentlassung sei mit der Auflage verbunden gewesen, dass der politisch radikale junge Mann an einem solchen Programm teilnehme.

«Das Gericht attestiert in dem Beschluss die Notwendigkeit, dass der Täter Bewährungsauflagen drei Jahre zu erfüllen hätte, statt ohne Auflagen ab Juli 2020 in Freiheit zu sein», erklärte Derad weiter. Weder die Bewährungshilfe, noch ein Deradikalisierungsprogramm, noch das Gericht verfüge über die Fähigkeiten der operativen Einheiten des Bundesverfassungsschutzes zur Überwachung von Personen; man könne keine Telefone abhören oder Personen observieren, heisst es.

Bereits neun Minuten nach Beginn der Attacke hatten Polizisten den 20-jährigen Angreifer erschossen. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) teilte am Dienstagabend mit, ein «Soldat des Kalifats» habe den Anschlag verübt.

Papst Franziskus mahnte, dass Terroranschläge wie in Wien und Nizza die Zusammenarbeit der Religionen nicht gefährden dürften. Bei seiner Generalaudienz am Mittwoch in Vatikan sagte das katholische Kirchenoberhaupt, man gedenke «der wehrlosen Opfer des Terrorismus, dessen Eskalation der Grausamkeit sich in ganz Europa ausbreitet».

Nach Ansicht der Theologin Margot Kässmann ist der Anschlag «ein schwerer Rückschlag vor allem für liberale Muslime, weil sie wieder mit Islamisten in eins gesetzt werden». Religionen müssten «glasklar dafür eintreten, dass Fanatismus, Fundamentalismus keinen Raum finden», forderte die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland in der «Zeit»-Beilage «Christ & Welt.»

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