UN-Chef: Migranten von Lesbos aufs Festland bringen
Das Wichtigste in Kürze
- Nach den Bränden im Migrantenlager Moria auf der griechischen Insel Lesbos fordert UN-Generalsekretär António Guterres, die obdachlos gewordenen Menschen aufs Festland zu bringen.
Er habe die «Verwüstung» verfolgt, schrieb Guterres im Kurznachrichtendienst Twitter. «Die Lösung liegt darin, sich um alle betroffenen Menschen zu kümmern, insbesondere die Verwundbarsten, und damit anzufangen, die Menschen auf das Festland zu bringen.»
Das Lager war in der Nacht zum Mittwoch bei mehreren zeitgleichen Bränden fast vollständig zerstört worden. Statt der vorgesehenen knapp 3000 Migranten waren dort mehr als 12.000 untergebracht. Einige sollen Feuer gelegt haben, nachdem für die Bewohner wegen Corona-Infektionen Quarantäne verordnet worden war.
Tausende, darunter Kinder, verbrachten die vierte Nacht in Folge im Freien. Humanitäre und staatliche Organisationen verteilten Wasser und Lebensmittel, wie das griechische Fernsehen (ERT) zeigte.
An einem nahen Ort wird ein provisorisches Zeltlager errichtet; auch in der Nacht wurde daran gearbeitet. «Alle Menschen müssen dorthin gehen. Nur so werden wir sie richtig versorgen können», erklärte der stellvertretende Migrationsminister Giorgos Koumoutsakos im Athener Nachrichtensender Skai.
Zahlreiche Migranten sagten aber Reportern vor Ort, sie wollten nicht ins provisorische Lager und sähen die Lage als Chance, ihre Abreise durchzusetzen. «Wir wollen nach Deutschland - nicht ins Lager», sagten viele. Bei spontanen kleinen Demonstrationen riefen Migranten «Freiheit, Freiheit».
Nach wie vor bewegen sich Dutzende Corona-Infizierte unter den Migranten. Mindestens 35 waren vor dem Grossbrand positiv getestet worden und danach untergetaucht.
Zehn europäische Staaten haben sich zur Aufnahme von insgesamt 400 unbegleiteten Minderjährigen bereiterklärt, von ihnen wollen allein Deutschland und Frankreich je 100 bis 150 übernehmen. Diesem ersten Schritt werde ein weiterer folgen, hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) am Freitag gesagt. «Ich lege persönlich sehr grossen Wert darauf, dass wir eine rasche Lösung für Familien mit Kindern finden.»
Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) kritisierte das als völlig unzureichend. In der «Augsburger Allgemeinen» (Samstag) sprach sie von einem «Totalversagen des Innenministers». Deutschland habe deutlich mehr Aufnahmekapazitäten. Auch der Präsident des Deutschen Städtetags, Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung, sagte der Düsseldorfer «Rheinischen Post» (Samstag): «Das reicht nicht aus.»
Deutsche Städte und Kommunen haben laut Beamtenbund dbb zahlreiche freie Plätze in Aufnahmeeinrichtungen, da Flüchtlinge von 2015 mittlerweile in regulären Wohnungen leben oder nicht mehr im Lande sind. «Die Erfahrungen aus 2015 haben insbesondere die Kommunen in die Lage versetzt, mit Flüchtlingsströmen besser umzugehen», sagte der dbb-Vorsitzende Ulrich Silberbach der Deutschen Presse-Agentur. 2015 waren knapp 900.000 Asylbewerber weitgehend unkontrolliert nach Deutschland gekommen. Für das vergangene Jahr hatte das Innenministerium von rund 140.000 Asyl-Erstanträgen gesprochen.
In den Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder gab es nach einem Bericht der «Süddeutschen Zeitung» im Frühjahr rund 25.000 freie Plätze. Mindestens 40.000 weitere könnten zusätzlich bereitgestellt werden, hiess es nach einer Umfrage bei den Landesministerien.
Beamtenbund-Chef Silberbach sagte: «Das sind ja aktuell auch keine Hunderttausende von Menschen, sondern wir reden über ein paar Tausend.» Die Kommunen seien bereit zu helfen. «Sie finden keinen Bürgermeister, keinen Landrat, der die Tür zumacht, sondern Sie finden Hilfsbereitschaft.»
Der baden-württembergische Innenminister und stellvertretende CDU-Chef Thomas Strobl wandte sich aber gegen Forderungen, alle Migranten aus Moria zu holen. «Wir können nicht alle der mehr als 12.000 Menschen aus dem zerstörten Flüchtlingslager in Deutschland aufnehmen - dann wären die nächsten 12.000 sehr schnell da», sagte er der «Stuttgarter Zeitung» und den «Stuttgarter Nachrichten» (Samstag). «Wir helfen, wollen aber nicht Hoffnungen wecken, die nicht erfüllt werden können.» Strobl wies darauf hin, das schon vor einigen Wochen 460 Minderjährige nach Deutschland und in andere EU-Staaten gebracht wurden.
Der Bewerber um den CDU-Vorsitz Norbert Röttgen schlug mit anderen Christdemokraten die Aufnahme von 5000 anerkannten Flüchtlingen vom griechischen Festland vor, auch um Griechenland so für die Betreuung der Moria-Migranten zu entlasten. Die Gefahr einer Sogwirkung wie 2015 sieht er nicht. Es gehe «davon kein Signal» aus, sagte er der «Neuen Osnabrücker Zeitung» (Samstag). «Wir haben inzwischen eine völlig andere Situation: Es gibt einen besseren Schutz der Aussengrenzen und Abkommen mit anderen Staaten.»
Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kündigte an, dass sich Bayern an der Aufnahme von Migranten beteiligen wird. «Am besten wäre eine grosse europäische Lösung. Aber es ist gut, dass Deutschland und Frankreich vorangehen. Andere sollten folgen», sagte er der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» (Samstag).
Deutschland sollte nach Ansicht von Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) mehr Migranten aus dem zerstörten griechischen Flüchtlingslager Moria aufnehmen als von Innenminister Horst Seehofer (CSU) vorgesehen. Dass zehn europäische Staaten 400 unbegleitete Minderjährige aufnehmen wollten, könne angesichts der schrecklichen Schicksale nur ein erster Schritt sein, sagte Scholz am Rande eines Treffens der EU-Finanz- und Wirtschaftsminister am Samstag in Berlin. «Das muss mehr werden und ein deutlicher, klarer Schritt sein, den auch Deutschland begleitet mit der eigenen Bereitschaft, in grösserem Umfang weitere Flüchtlinge aufzunehmen.»
Der SPD-Kanzlerkandidat betonte, es sei gut, wenn andere europäische Staaten auch mitzögen - doch das sei keine Voraussetzung für deutsche Hilfe. «Dass wir auf alle Fälle bereit sind, etwas zu tun, das, glaube ich, gebietet unsere humanitäre Vernunft», betonte er.
Gut drei Viertel der Moria-Bewohner kommen aus Afghanistan (77 Prozent), ein kleinerer Teil aus Syrien (8 Prozent) und dem Kongo (7 Prozent). Die Chancen auf Schutz sind je nach Nationalität unterschiedlich - für Syrer gut, für Afghanen schlechter.