Selenskyj gegen Klitschko: Burgfrieden in Kiew wird brüchig

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Russland,

Seit neun Monaten wehrt sich die Ukraine gegen den Angriff aus Russland. Der Zusammenhalt ist gross – eigentlich. Nun aber gibt es erstmals wieder innenpolitischen Zwist.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko öffentlich gerügt.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko öffentlich gerügt. - Efrem Lukatsky/AP/dpa

Das Wichtigste in Kürze

  • Seit Beginn des russischen Einmarschs in die Ukraine vor neun Monaten galt in Kiew ein stillschweigend vereinbarter Burgfrieden.

Solange die Armee von Kremlchef Wladimir Putin im Land steht, sollte innenpolitischer Zwist in den Hintergrund rücken und dort auch bleiben. Nun aber wurde dieser Konsens aufgekündigt – ausgerechnet von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Der Ex-Schauspieler rügte öffentlich die Stadtverwaltung von Kiew unter Bürgermeister Vitali Klitschko, der seit seiner Box-Karriere auch in Deutschland sehr prominent ist.

Vorausgegangen war eine weitere russische Raketenattacke auf die Energieversorgungssysteme der Hauptstadt und anderer Orte. Dadurch kam es praktisch überall in der Ukraine zu massiven Stromausfällen, die nur langsam behoben werden. Selenskyj suchte sich jedoch allein die Hauptstadt für öffentliche Schelte aus. «Viele Kiewer waren über 20 oder sogar 30 Stunden ohne Strom», bemängelte der Staatschef per Video. Er erwarte vom Rathaus eine bessere Arbeit. Namen nannte er keine. Auch so wurde klar, wen er meinte: Klitschko.

Versorgungspunkte dürftig ausgestattet

In der Hauptstadt seien nach Tagen immer noch 600.000 Haushalte ohne Strom, sagte Selenskyj bei dem Auftritt am Freitagabend. Im schwarzen Kapuzenpullover verwies er auf ein von ihm persönlich angekündigtes Projekt, die «Punkte der Unbesiegbarkeit». An diesen Stellen in der Stadt soll sich jeder wärmen und mit Strom und Internet versorgen können. «Faktisch sind nur diejenigen Punkte normal ausgestattet, die vom Katastrophenschutz und am Bahnhof aufgebaut wurden», tadelte Selenskyj jedoch. Der Rest sei in miserablem Zustand.

Um seine Aussage zu belegen, schickte der 44-Jährige Abgeordnete seiner Partei «Diener des Volkes» zum Heizstellen-Check. Fraktionschef David Arachamija rapportierte später, dass mehr als 360 Aufwärmpunkte geprüft worden seien. In Schulen und Kindergärten hätten Mitarbeiter auf eigene Kosten Tee und Gebäck mitgebracht. «Doch hat die Stadtregierung den Crashtest nur mit 'schlecht' bestanden und bisher keine Schlussfolgerungen gezogen.» Zugleich lobte Arachamija das Management der ukrainischen Bahn: «Sie haben 200 «Waggons der Unbesiegbarkeit» und eine ganze Festung», womit er den Hauptbahnhof in Kiew meinte.

Da Klitschko in der Ukraine nur eingeschränkt medienwirksame Möglichkeiten zur Verteidigung hat, bediente sich der ehemalige Box-Weltmeister seiner Kontakte im Ausland. Über die «Bild am Sonntag» rief der 51-Jährige seine Landsleute angesichts der russischen Invasion noch einmal zur Einigkeit auf. «Wir müssen weiter gemeinsam dafür sorgen, das Land zu verteidigen und die Infrastruktur zu schützen.» Klitschko versicherte, dass es in der Stadt wieder Wasser und Heizung gebe. Nun gelte es, die Stromversorgung wieder herzustellen.

Dazu zeigte sich der 51-Jährige mit weissem Helm in einem der Heizkraftwerke von Kiew. Vor sowjetischen Armaturen schüttelte er Hände und bedankte sich bei den Mitarbeitern des Unternehmens Kyivteploenerho. «Mehr als 3000 Menschen haben Tag und Nacht dafür gearbeitet, damit wir sagen können, dass fast 98 Prozent der Häuser unserer Stadt mit Fernheizung versorgt sind», sagte Klitschko. Gleichzeitig gestand das Stadtoberhaupt jedoch, dass weiterhin gut ein Viertel der Kiewer ohne Strom auskommen müsse.

Am Sonntagmorgen dann kam die erlösende Nachricht der Kiewer Militärverwaltung: Fast überall in der Drei-Millionen-Stadt gab es wieder Strom. Auch Wasser, Wärme und Mobilnetz seien nahezu vollständig wiederhergestellt.

Soll Klitschko als Präsidentschaftskandidat ausgeschaltet werden?

Es ist nicht das erste Mal, dass Selenskyj und seine Administration gegen Klitschko schweres Geschütz in Stellung bringen. Bereits nach Selenskyjs Amtsantritt 2019 forderte der damalige Chef des Präsidentenbüros, Andrij Bohdan, den Rücktritt des Hauptstadtbürgermeisters, der seit 2014 im Amt ist. «Er hat die Kontrolle über die Situation in der Stadt im Verlaufe der letzten fünf Jahre verloren», tönte Bohdan damals.

Damals galt fast als ausgemacht, dass Selenskyj Klitschko zumindest kaltstellen werde. So sollte das Amt des gewählten Bürgermeisters vom Posten des Chef der Stadtverwaltung getrennt werden. Klitschko wäre damit zu einer Art Grüssaugust geworden. Doch es kam anders. Medienberichten zufolge gelang es Klitschko, über Kontakte zum Selenskyj-Vertrauten Andrij Jermak seine Degradierung zu verhindern. Inzwischen leitet Jermak das Präsidentenbüro.

Nach Meinung mancher Beobachter scheint Selenskyj nun einen zweiten Anlauf nehmen wollen, um Klitschko als potenziellen Gegner bei der 2024 anstehenden Präsidentenwahl auszuschalten. Allein: Bis dahin gilt es zum einen, den Krieg zu beenden. Und zum anderen, den Krieg zu überleben.

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