So gingen die Habsburger unter
«Wir hatten alle Tränen in den Augen», erinnerte sich der letzte kaiserliche Finanzminister. Vor 100 Jahren ging das Reich der Habsburger unter.
Das Wichtigste in Kürze
- Das Reich der Habsburger ging vor 100 Jahren unter.
- Das Reich zettelte vier Jahre zuvor den Ersten Weltkrieg an.
- Bis heute sind Auswirkungen in der Politik zu spüren.
So sieht ein schwacher Abgang aus. Bei Nacht und Nebel schlichen sich die einst mächtigen Habsburger aus dem Schloss Schönbrunn in Wien. Kaiser Karl I., als tiefreligiöser Herrscher im Grunde auch in dieser Stunde noch beseelt von seinem angeblichen göttlichen Auftrag, liess sich und seine Frau Zita am 11. November 1918 ins 50 Kilometer entfernte Schloss Eckartsau bringen.
Seine Leibwache hatte den Dienst quittiert, an den Autos waren die Insignien der Habsburger entfernt worden, der Kaiser trug Zivil statt Uniform. Alles aus Angst vor der Wut des hungernden Volks. «Wir alle hatten Tränen in den Augen», erinnerte sich der letzte kaiserliche Finanzminister Josef Redlich an den Abschied vom Regenten.
Vier Jahre zuvor hatte das Land mit seiner Kriegserklärung an Serbien den Ersten Weltkrieg ausgelöst. 1914 war es grösser als das Deutsche Reich, eine Grossmacht mit 50 Millionen Bürgern und einem Dutzend Völkern. Jetzt war der Weltkrieg vorbei, eine 650 Jahre alte Dynastie war Geschichte, die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn war praktisch aufgelöst. Ein Machtvakuum mit vielen ungelösten Konflikten entstand.
Auch der Start der Republik misslang. Beim Hissen der rot-weiss-roten Flagge vor dem Parlament fehlte das weisse Mittelteil. Jemand hatte es herausgeschnitten. «Ein unordentlicher roter Lappen stieg durch die Luft bis zur Spitze der hohen Stange», schilderte der Journalist Richard Bermann – und deutete das Geschehen als übles Vorzeichen für den neuen Staat.
Selbstbestimmung der Völker
Der Zerfall des Riesenreichs, das vom Bodensee bis in die heutige Ukraine reichte, zu dem Prag gehörte, das grosse Teile des Balkans umfasste und sich bis zum Gardasee erstreckte - geschah unter dem von den USA propagierten Motto «Selbstbestimmungsrecht der Völker».
Es entstanden Staaten wie Polen, die Tschechoslowakei und das spätere Jugoslawien. Italien bekam Südtirol, Ungarn verlor grosse Teile seines Gebiets. Von Österreich blieb ein winziger Rest.
Die Nachwirkungen sind bis in die heutige Politik zu spüren. Österreich ist die Schutzmacht der deutschsprachigen Südtiroler und will ihnen nun gar zum Ärger Italiens einen Pass anbieten. In Ungarn wird das damalige Geschehen bis heute politisch ausgenutzt.
Denn die Ungarn erlebten die Zerschlagung ihres Landes durch den Friedensvertrag von Trianon (1920) als Trauma. Der autoritäre Staatsführer der Zwischenkriegszeit, Miklos Horthy, erhob die «Revision», die Zurückeroberung der «verlorenen Landesteile», zur Staatsdoktrin – und wurde damit zum Verbündeten Hitlers im Zweiten Weltkrieg und beim Holocaust.
In der kommunistischen Zeit (1948/49-1989) war Trianon tabu – waren doch die meisten Nutzniesser der ungarischen Gebietsverluste nunmehr «sozialistische Bruderländer».
Nach der demokratischen Wende machte die ungarische Rechte das Trianon-Trauma zu einem Leitmotiv ihrer nationalistischen Mobilisierung. Der rechts-nationale Ministerpräsident Viktor Orban erklärte den 4. Juni, den Jahrestag der Unterzeichnung des Trianon-Abkommens, per Gesetz zum «Tag des nationalen Zusammenhalts».
Zu spät reagiert
Die Geschichte des Untergangs der Habsburger ist eine Geschichte über das Verkennen des Wandels. «Das Habsburgerreich war ein hochkomplexes politisches Kunstprodukt von Völkern und Staaten, die aus eigenem Antrieb kaum zueinandergefunden hätten, die wenig miteinander verband als eben der Umstand, dass sie alle aus Wien regiert wurden», schreibt der Autor Kersten Knipp.
Für die einen war das Reich eine «Völkerfamilie», für die anderen war es ein «Völkerkerker». Mit seiner Aura des Gerechten war es Kaiser Franz Joseph I. jahrzehntelang gelungen, den aufkommenden Nationalismus noch zu neutralisieren. Als sein Nachfolger Karl I. in letzter Minute den Ruf der Zeit hören wollte, war es zu spät.
Das Völkermanifest vom 16. Oktober 1918 war ein dramatischer kaiserlicher Hilfeschrei: «Österreich soll, dem Willen seiner Völker gemäss, zu einem Bundesstaate werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiete sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet.»
Das Angebot, das die Krone in einem neuen Bund retten sollte, beeindruckte niemanden mehr. Die politischen Weichen waren längst gestellt. In völliger Verkennung der Machtsituation dankte Karl I. nicht ab, sondern verzichtete nur auf jede persönliche Teilnahme an den Regierungsgeschäften.
Zar gestürzt
Im Jahr zuvor hatte das erschütternde Schicksal der Zarenfamilie in Russland gezeigt, dass Herrschen ohne Voraus- und Rücksicht, ein Regieren ohne Reformen ein Auslaufmodell war. In der Februarrevolution 1917 stürzte die Monarchie – die Romanow-Dynastie dankte nach drei Jahrhunderten ab. Ein halbes Jahr später ergriffen der radikale Revolutionär Lenin und seine kommunistischen Bolschewiki in der Oktoberrevolution die Macht.
Russland versank in einem Bürgerkrieg – Rot kämpfte gegen Weiss und ausländische Interventen. In diesem Chaos ermordeten die Bolschewiki im Juli 1918 in Jekaterinburg den letzten Zaren Nikolaus II. und dessen Familie. Der Bürgerkrieg, in dem schliesslich die Kommunisten siegten, war für Russland noch blutiger als der Erste Weltkrieg.
«Die Bilanz der menschlichen Katastrophe, die Russland zwischen 1914 und 1921 erlebte, ist nur ungefähr zu beziffern: Krieg, Terror, Epidemien und Hunger forderten schätzungsweise zwölf bis dreizehn Millionen Opfer» – das schreibt der Historiker Nikolaus Katzer.
Wie in der Donaumonarchie fielen auch im Zarenreich die Völker an den Rändern ab: Finnland, die baltischen Staaten und Polen wurden 1918 unabhängig. In anderen Regionen wie der Ukraine oder im Kaukasus war der nationale Aufbruch von kurzer Dauer. Sie blieben bei der Sowjetunion, die 1922 gegründet wurde.
Nur noch ein Rumpfstaat
Am 10. September 1919 unterzeichneten Österreich und die Alliierten den Vertrag von St. Germain, der die Auflösung Österreich-Ungarns regelte. Aus dem Vielvölkerstaat wurde ein Rumpfstaat mit 6,5 Millionen Einwohnern – in der damaligen öffentlichen Meinung kaum lebensfähig. Mit einem gewissen Zynismus meinte Frankreichs Premier Georges Clemenceau: «Der Rest ist Österreich.»
Dieser Frieden unter dem Diktat der Sieger – die obendrein den von Österreich gewollten Anschluss an Deutschland untersagten – wurde zum politischen Geschenk für die Nazis, die gegen die Verträge agitierten. 20 Jahre später kam es auf Befehl Adolf Hitlers zum «Anschluss» Österreichs an das Deutsche Reich.
Dass die von US-Präsident Woodrow Wilson propagierte «Selbstbestimmung der Völker» ihre realen Tücken hatte, wurde schon unmittelbar nach dem Krieg sichtbar. Durch die neuen Grenzen entstand ein besonders scharfes Bewusstsein dafür, wer die Mehrheit, wer die Minderheit ist. «Fünf Millionen Deutschsprachige lebten auf dem Gebiet der Tschechoslowakei sowie in Italien, Jugoslawien, Ungarn, Rumänien und Polen», listet der Autor Hannes Leidinger auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte dies zu Vertreibungen und Verfolgungen deutscher Minderheiten im östlichen Europa führen.
Eine tragische Figur
Karl I. bleibt im Rückblick eine tragische Figur. Seit seiner Machtübernahme 1916 hatte er versucht, Frieden mit den Alliierten zu schliessen. Als seine geheimen Sondierungen öffentlich wurden, war der deutsche Bündnispartner geschockt und Karl fortan noch mehr an den Rand gedrängt.
Den Untergang des Reiches verfolgte er nach der Zwischenstation in Eckartsau zunächst vom Schweizer Exil aus, bevor er auf der Atlantik-Insel Madeira seine letzte Heimat fand. Wegen Geldnot liess er eine Erkältung nicht behandeln und erkrankte an einer Lungenentzündung, an der er 1922 mit 34 Jahren starb.
2004 wurde der äusserst gläubige Herrscher von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen. Der letzte Habsburger auf dem Kaiserthron sei ein «vorbildlicher Christ, Ehemann, Familienvater und Herrscher» gewesen.