So sehr kann die Pandemie Jugendliche krank machen
Kann die Pandemie Kinder und Jugendliche seelisch so krank machen, dass sie in eine psychiatrische Klinik müssen? Nach den Daten einer Krankenkasse haben sich die Einweisungen in Berlin fast verdoppelt. Was ist da los?
Das Wichtigste in Kürze
- Ängste, Essstörungen, Depressionen: In Berlin kommen seit Beginn der Corona-Pandemie mehr Kinder und Jugendliche zur Behandlung in psychiatrische Kliniken.
Das geht aus einer Sonderauswertung der Krankenkasse DAK hervor, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt.
Danach haben sich allein in der Hauptstadt im ersten Halbjahr 2020 Psychiatrie-Einweisungen junger Menschen fast verdoppelt. Und nicht nur hier steigen die Aufnahmen. «Es ist insgesamt ein Riesenthema unter Kollegen», sagt Jugendpsychiater Martin Holtmann, Beirat der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Viele Stationen seien in diesem Winter voll, Sprechstunden liefen über.
Nur die Spitze des Eisbergs
«Klinikaufnahmen sind die Spitze des Eisbergs. Wenn die sich verbreitert, kann man davon ausgehen: Hoppla, da passiert etwas», sagt Christoph Correll, Direktor der Klinik für Kinder-und Jugendpsychiatrie auf dem Charité-Campus Virchow. Die Klinik sei oft der letzte Ausweg. «Da kommt man nicht wegen ein bisschen Befindlichkeitsstörung hin, da muss man echt krank sein», ergänzt Holtmann, Ärztlicher Direktor der LWL-Universitätsklinik im nordrhein-westfälischen Hamm.
Die DAK-Zahlen beruhen nach Angaben der Kasse auf anonymisierten Daten von rund 38.000 Berliner Kindern und Jugendlichen. Im ersten Halbjahr 2019 wurden danach 22 junge Leute bis 17 Jahre wegen depressiver Episoden in Klinik-Psychiatrien behandelt. In den ersten sechs Monaten 2020 waren es 39. Das scheint nicht viel. Allerdings kamen 2020 in diesem Zeitraum nur 928 über die DAK versicherte Berliner Kinder und Teenager überhaupt stationär in eine Klinik. Die Steigerungsrate von 84 Prozent in der Psychiatrie wertet DAK-Landeschef Volker Röttsches deshalb als «besorgniserregende Entwicklung».
Charité-Medizinprofessor Correll zählt auf, was in seiner Klinik häufiger vorkommt als vor der Pandemie: «Sehr magere essgestörte Mädchen, noch dünner als früher», sagt er. «Wahrscheinlich, weil Lehrer, Freundinnen oder Kinderärzte als Korrektiv fehlen.» Dazu fällt ihm mehr Hautritzen als zerstörerische Bewältigungsstrategie auf.
Offener Brief an die Bundesregierung
«Ich glaube, in den allerwenigsten Fällen haben Corona oder der Lockdown eine Depression verursacht», urteilt Holtmann. «Aber sie haben die Schwelle gesenkt für Menschen, die schon vorher an einer Grenze zu einer psychischen Erkrankung waren.» Vergangene Woche schickte Julia Asbrand, Psychologin und Wissenschaftlerin an der Berliner Humboldt-Universität, im Namen vieler Kolleginnen und Kollegen einen offenen Brief an die Bundesregierung. Bundesweit zeigten sich bei Kinder- und Jugendpsychiatern sowie Psychotherapeuten vermehrt Aggressionen, Schlafstörungen, Schulängste, Essstörungen, Depressionen und Drogenmissbrauch bei jungen Menschen, hiess es darin. Es gehe auch um Suizidalität und Gewalterlebnisse im Elternhaus.
«Was wir aus Berlin und ganz Deutschland hören, ist ein Anstieg von krisenhaften Aufnahmen», sagt Asbrand. Eine klare, kausale Schlussfolgerung sei noch nicht möglich, weil dafür eine repräsentative Datenbasis fehle. «Wir bräuchten Zahlen aller Krankenkassen, um ein gutes Bild zu bekommen.» Es deute aber sehr viel darauf hin, dass es mit der Pandemie zu tun habe.
Mehr Stress, mehr Einsamkeit und mehr Wut
«Menschen sind soziale Wesen, die nicht nur in der Kernfamilie funktionieren», sagt Asbrand. Bei Jugendlichen sei das ein ganz grosses Thema. «Sie haben als Aufgabe und Ziel, sich abzugrenzen, also aus der Familie hinauszugehen und sich andere Kontakte zu suchen. Und gerade das ist jetzt nicht möglich.» Die Psychologin beobachtet bei Teenagern auch eine neue Form von Langeweile. «Im Sinne von Antriebslosigkeit. Wie bei einer depressiven Symptomatik», sagt die Professorin.
Auch für Mediziner Correll sind Teenager sehr abhängig von Schule, Freunden und Familien. «Das sind ihre drei wichtigen Lebensbereiche. Wenn da etwas knirscht oder zum Ausgleich nicht mehr da ist, kann das eigene System anfangen zu wanken.» Die Charité beteiligt sich an einer grossen internationalen Studie zur psychischen Gesundheit in der Pandemie (Coh-Fit). Rund 10.000 Menschen in Deutschland seien dafür schon befragt worden, bis hin zu Gewalterfahrungen, berichtet der Arzt. Für Kinder und Jugendliche laufe die Analyse noch. Was bisher bei Erwachsenen herauskam: Rund 30 Prozent fühlten einen höheren Stresslevel, mehr Einsamkeit und mehr Wut.
Depressionen bei jungen Leuten habe es auch vor Corona gegeben, betont Medizinprofessor Holtmann. Auf drei bis zehn Prozent schätzt die Stiftung Deutsche Depressionshilfe die Erkrankungsquote zwischen 12 und 17 Jahren. Doch dieser Anteil habe sich in der Pandemie erhöht. Ein Mensch mit einer milden Depression brauche eine Tagesstruktur, Ablenkung, angenehme Aktivitäten und Kontakte. Gerade das aber sei in der Pandemie weggefallen. «Was man draussen für die Therapie bräuchte, gibt es gerade nicht», erläutert der Arzt. Das sei, als ob Therapeuten ihr Werkzeug aus der Hand genommen werde. Und dann rutschten ihre Patienten tiefer rein.
Charité-Arzt Correll sieht noch einen Faktor: Im ersten Lockdown sei die Inanspruchnahme von ambulanten und stationären Angeboten etwas abgesunken, berichtet er. «Patienten und Familien haben abgewartet, auch aus Sorge vor Ansteckungen. Durch verzögerte Hilfesuche oder Unterbrechung einer laufenden Behandlung können sich psychische Krankheiten verstärkt haben.»
Stressabfedernde Faktoren müssen aktiviert werden
In Holtmanns Klinik sind Medikamente nicht die Hauptsache bei der Behandlung junger Leute. «Wir versuchen, das, was draussen fehlt, nun bei uns zu machen», berichtet er. «Das ist ja das Verrückte, dass wir als Klinik zur Zeit mehr anbieten können als die normale Umwelt: Turnhallen, Unterricht, Gruppenbegegnungen auf unserem Gelände.»
Auch er sieht mehr Essgestörte. Da habe aber nicht Corona die Magersucht verursacht. «Vielmehr haben die Corona-Bedingungen dazu geführt, dass aus einer leichten Neigung ein Vollbild entsteht.»
Es gebe insgesamt viele stress- und krankheitsfördernde Faktoren, die durch die Pandemie verstärkt würden und zusammenwirken, sagt Correll. Aber es gebe auch stress- und krankheitsabfedernde Faktoren, die aktiviert oder verstärkt werden könnten. «Um Kindern und Jugendlichen, Eltern und Familiensystemen, die derzeit sehr unter Druck geraten, da wieder herauszuhelfen.» Ein Rezept? «Kontakt mit anderen, auch über das Internet, Bewegung sowie eine klare Tagesstruktur, auch von zu Hause aus.»