Vorösterliche Spekulationen: Merkel, AKK und das Kanzleramt
Angela Merkel hat erklärt, sie stehe für die volle Regierungszeit bis 2021 zur Verfügung. Doch kommt es ganz anders? Wichtige Weichen dürften nach der Europawahl gestellt werden. In der Union rumort es.
Das Wichtigste in Kürze
- Offiziell bemüht sich die schwarz-rote Koalition seit Wochen, den Eindruck einer notorisch am Abgrund stehenden Regierung endlich zu zerstreuen.
Doch hinter den Kulissen ist es in Berlin mit der vorösterlichen Ruhe vorbei.
Im Mittelpunkt der Spekulationen steht die Frage, ob der erste politische Stimmungstest des Jahres - die Europawahl Ende Mai - ein politisches Beben auslöst, das die Grundfesten der Regierung erneut erschüttert.
In der Union rumort es kräftig. In der CDU fragen sich manche: Löst die neue Vorsitzende und Wunsch-Nachfolgerin von Angela Merkel, Annegret Kramp-Karrenbauer, ihre Förderin womöglich noch in diesem Jahr im Kanzleramt ab? Ausgeschlossen ist das nicht.
In der CDU kursieren diverse Theorien, wie ein Wechsel vonstatten gehen könnte. Einzige Konstante: Ohne Merkel selbst dürfte keine funktionieren. Doch rund sieben Monate nach ihrer überraschenden Entscheidung, entgegen allen Vorsätzen den Parteivorsitz abzugeben, könnte der interne Druck auf die Kanzlerin steigen, einen Weg zu finden, wie AKK auch ins Regierungsamt wechseln könnte.
Doch keiner weiss, was Merkel wirklich will. Und zu unklar ist, wie die Europawahl am 26. Mai ausgeht und welche Folgen die zeitgleich stattfindende Bürgerschaftswahl in Bremen und die Kommunalwahlen in zehn Bundesländern auf die Koalitionsstatik haben werden.
Sollten etwa die Sozialdemokraten in Europa ihr Ergebnis von gut 27 Prozent nahezu halbieren, sich im Stammland Bremen nicht in Rot-Rot-Grün retten können und auch noch bei den Kommunalwahlen abschmieren, fürchten manche, dass die SPD implodiert.
In der Union ist von erfahrenen Bundestagsabgeordneten zu hören, sie trauten es Merkel durchaus zu, den Weg für Kramp-Karrenbauer ins Kanzleramt noch in diesem Jahr frei zu machen. Zumal dieser Schritt der 64-jährigen Merkel es zumindest in der Aussenwirkung ermöglichen könnte, selbstbestimmt aus dem Amt zu scheiden.
Konkrete Anhaltspunkte für solche Veränderungen in der CDU gibt es derzeit nur wenige. Da ist zum einen die Kritik am Merkel-Vertrauten und Wirtschaftsminister Peter Altmaier, die wohl vor allem aus dem Lager des bei der Vorsitzenden-Wahl knapp unterlegenen Friedrich Merz orchestriert wird.
Viel gefährlicher könnte für Merkel eine Stimmung werden, die sie mit ihrer Entscheidung ausgelöst hat, im deutschen Europawahlkampf kaum aufzutreten - ausser bei der Abschlussveranstaltung am 24. Mai - und auch kaum vor den Wahlen in Ostdeutschland im Herbst. Manche, die bis zuletzt ihre Knochen für die Kanzlerin hingehalten hätten, seien nicht gerade begeistert davon, dass sich Merkel nun nicht mehr für die Partei in den Wahlkampf stürzen wolle - auch angesichts ihrer anhaltend guten Beliebtheitswerte in den Umfragen, heisst es in der Partei.
Eine ähnliche Dynamik wie vor sieben Monaten, als Merkel mit der Entscheidung zum Verzicht auf den CDU-Vorsitz einem stärker werdenden internen Druck zuvorkam, könne es nun wieder geben. Schon beim Europawahl-Auftakt am 27. April in Münster, für den die Kanzlerin entgegen dem Wunsch des Adenauerhauses um Kramp-Karrenbauer abgesagt hatte, werde die CDU feststellen: Es gehe auch ohne Merkel, heisst es kühl.
Doch wie könnte ein Wechsel im Kanzleramt von Merkel zu AKK über die Bühne gehen - auch angesichts hoher verfassungsrechtlicher Hürden? Dass die Union den Weg über ein konstruktives Misstrauensvotum gehen könnte, bei dem CDU und CSU ihrer Kanzlerin das Vertrauen entzögen, wird für nahezu ausgeschlossen gehalten.
Als mögliche Varianten werden deswegen in Berlin zwei Auswege gehandelt: Eine «Amtsbeendigung» der Kanzlerin mit anschliessender Wahl von Kramp-Karrenbauer im Bundestag ohne vorherige Neuwahl - also quasi ein Neuanlauf der vor eineinhalb Jahren gescheiterten Jamaika-Variante mit FDP und Grünen.
Das dürfte vor allem an den Grünen hängen. Deren strategische Ausgangslage: 8,9 Prozent bei der Bundestagswahl, kleinste Fraktion im Bundestag, aber satte 17 bis 20 Prozent in den Umfragen. Zu verdanken haben sie die dem neuen Führungsduo aus Robert Habeck und Annalena Baerbock, das keine Scheu vor linken Positionen hat, aber für eine Zusammenarbeit mit Union und FDP trotzdem offen wirkt.
Beide waren bei den gescheiterten Jamaika-Gesprächen zwar dabei, stehen aber für einen Neustart. Formelle Koalitionsverhandlungen mit Union und FDP auf Basis der Machtverhältnisse von 2017 gelten an der Grünen-Spitze aber inzwischen als undenkbar. Warum sollte man auf das wahrscheinliche Top-Ergebnis einer Neuwahl verzichten? Ausserdem: Vor der nächsten Wahl - planmässig im Herbst 2021 - bliebe kaum Zeit, wirklich zu regieren. Schmerzhafte Kompromisse mit Schwarz und Gelb gingen auf Kosten der Glaubwürdigkeit. Das würde auch für eine Art Projektregierung gelten, wie auch immer die aussehen könnte.
Richtig ist: Es gibt bei den Grünen wichtige Köpfe, für die eine schnelle Regierungsbeteiligung die letzte Chance auf echte Macht sein könnte. Die Spitzenkandidaten von 2017 etwa, Ex-Parteichef Cem Özdemir und Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Das Machtzentrum heisst aber Habeck/Baerbock - und die haben keine Eile. Nach einer Neuwahl scheint eine Koalition ohne Grün derzeit schwer denkbar.
In der Union wird zwar nicht ganz ausgeschlossen, dass es ein neues Jamaika-Bündnis geben könnte, beispielsweise mit der Verständigung auf einige wenige inhaltliche Top-Ziele für die verbleibenden zwei Jahre der Legislatur. Selbst die Möglichkeit, dass die SPD Kramp-Karrenbauer zur Kanzlerin mitwählen könnte, wird nicht ganz ausgeschlossen - obwohl SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil genau dies gerade erst getan hat. Als viel wahrscheinlicher wird aber ein anderer Ausweg gehandelt: Eine Minderheitsregierung der Union, vielleicht sogar mit Merkel an der Spitze - und womöglich eine vorgezogene Neuwahl am Termin der Landtagswahl in Thüringen, dem 27. Oktober.