Trotz Polizeigewalt neue Proteste gegen Lukaschenko
Bei der vierten Protestnacht in Folge gehen Uniformierte wieder mit Schlagstöcken gegen Demonstranten vor. Doch die Weissrussen kämpfen weiter.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Proteste in Belarus gehen trotz heftiger Polizeigewalt weiter.
- Präsident Alexander Lukaschenko erfährt immer mehr Widerstand.
- Im Netz kursieren Videos von Polizisten, die sich mit den Demonstranten solidarisieren.
Trotz massiver Polizeigewalt haben den vierten Abend in Folge Menschen in vielen Städten in Belarus (Weissrussland) für einen Rücktritt von Präsident Alexander Lukaschenko demonstriert.
In mehreren unabhängigen Kanälen des Nachrichtendienstes Telegram war in der Nacht zum Donnerstag auf Videos zu sehen, wie Menschen in Minsk, Grodno und anderen Städten Lukaschenko dazu aufriefen, die Gewalt zu beenden und abzutreten.
Es gab erneut Dutzende Festnahmen und mehrere Verletzte. Zugleich wuchs die Solidarität mit den Demonstranten. In Minsk traten mehr als 100 Ärzte gegen Gewalt auf.
Literaturnobelpreisträgerin fordert Lukaschenko zum Rücktritt auf
Die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch forderte erstmals den autoritären Präsidenten Alexander Lukaschenko direkt zum Rücktritt auf.
«Verzieh Dich, bevor es zu spät ist!», sagte die 72-Jährige in einem am Mittwochabend vom belarussischen Dienst des Radiosenders Swoboda (Radio Free Europe) veröffentlichten Interview. «Aus meiner Sicht hat der Machtapparat dem Volk den Krieg erklärt.» Niemand habe sich eine solche Gewalt vorstellen können.
Vielerorts bildeten sich Menschenketten gegen die Polizeigewalt und gegen Wahlfälschung. Bei der Präsidentenwahl am Sonntag hatte Lukaschenko, der seit mehr als 26 Jahren im Amt ist und als «letzter Diktator Europas» gilt, sich zum sechsten Mal als Sieger ausrufen lassen - mit 80,08 Prozent der Stimmen.
Seine Gegner sehen dagegen die 37 Jahre alte Kandidatin Swetlana Tichanowskaja als Siegerin. Sie ist unter dem Druck der Behörden in das EU-Land Litauen geflohen.
Der nicht zur Wahl zugelassene Kandidat Waleri Zepkalo, ein prominenter IT-Unternehmer, appellierte aus seinem russischen Exil an die EU, Tichanowskaja als Präsidentin anzuerkennen. Hunderte IT-Unternehmer forderten Lukaschenko zum Einlenken auf und drohten in einem offenen Brief, mit ihren Firmen das Land zu verlassen.
Beamte wechseln die Seiten
Es kursierten mehrere Videos, auf denen Männer mit Kritik an der Gewalt gegen friedliche Bürger ihre Uniformen in den Müll warfen oder sogar verbrannten, ihre Dienstmarken mit Kündigungsschreiben abgaben.
Allein auf dem Telegram-Kanal von NEXTA wurden heute 12 Videos von Sicherheitskräften geteilt, die ihren Dienst quittieren und teilweise ihre Uniformen verbrennen oder in den Müll schmeißen. So viele wie noch nie. Hier ein Ex-Speznas. #Belarus pic.twitter.com/s7StrlBRXD
— Jan-Henrik Wiebe (@jan_wiebe) August 12, 2020
Sie erklärten, dass sie ihren Eid auf den Schutz des belarussischen Volkes und nicht dem Machterhalt eines Mannes geschworen hätten. Die Echtheit der Videos war nicht überprüfbar. Ein Uniformierter des Innenministeriums sagte, dass er im Dienst bleibe, aber Tichanowskaja als die neue Präsidentin anerkenne.
3. People continue quitting state-funded jobs (TV on the photos) and make their statements publicly, while former soldiers/special forces policemen through their uniform away out of #protest pic.twitter.com/nTMv8QVTyI
— Olga Dryndova (@OlgaDryndova) August 13, 2020
Die vierfache Biathlon-Olympiasiegerin Darja Domratschewa zeigte sich bestürzt über die Gewalt in ihrer Heimat. Sie appellierte an die Sonderpolizei Omon, die Gewalt zu beenden.
«Lasst nicht weiter diesen ungerechten Horror auf den Strassen zu», schrieb sie bei Instagram. Jeder Konflikt lasse sich auf friedliche Weise lösen. Ein Moderator des Staatsfernsehens kündigte demonstrativ seinen gut bezahlten Posten. Auch andere Journalisten entschieden sich zur Kündigung.
Zweiter Todesfall bekanntgeworden
In Minsk etwa schossen Männer in schwarzen Uniformen und Sturmmasken wahllos mit Gummigeschossen in Richtung von Bürgern, die von Balkonen aus die Beamten ausbuhten und «Schande» riefen.
In every town, in every house, in every flat! People have had enough!#ЛукашенкоУходи #LukashenkoGoAway#Belarus pic.twitter.com/eTmaomMr4s
— NEXTA (@nexta_tv) August 12, 2020
Bekannt wurde zudem ein zweiter Todesfall bei den seit Sonntag andauernden Protesten. Eine Mutter warf der Polizei vor, ihren Sohn am Wahlsonntag entführt und seinen Tod verursacht zu haben. Die Behörden bestätigten, dass der 25-Jährige tot sei, die Todesumstände aber untersucht werden müssten.
Ein anderer Mann war durch einen Sprengsatz gestorben. Es gab bisher Hunderte Verletzte und mehr als 6000 Festnahmen bei den grössten Protesten in der Geschichte des Landes.
Auch im Ausland kam es zu Protesten gegen die Gewalt in Belarus - wie etwa an der Botschaft des Landes in Moskau. In Lettland demonstrierten mehrere hundert Menschen vor der belarussischen Botschaft.
In der Hauptstadt Riga forderten sie die Freilassung inhaftierter Demonstranten. In der Ukraine forderte Ex-Präsident Petro Poroschenko per Video Lukaschenko zum Gewaltverzicht auf.
Nachbarländer bieten sich als Vermittler an
Derweil boten sich die Nachbarländer Litauen, Polen und Lettland als Vermittler an. Der litauische Präsident Gitanas Nauseda präsentierte einen entsprechenden Plan, um die Gewalt beenden zu können, wie die Präsidialkanzlei des baltischen EU-Landes mitteilte.
Polen und Lettland würden diesen Plan sowie die Einleitung eines internationalen Vermittlungsprozesses unterstützen, hiess es weiter. Lukaschenko lehnt einen Dialog bislang strikt ab.
Nauseda sagte der Mitteilung zufolge, erstens müssten die Behörden in Belarus die Lage unverzüglich deeskalieren und «die Anwendung brutaler Gewalt gegen das Volk beenden».
Zweitens müssten alle inhaftierten Demonstranten freigelassen und ihre Verfolgung eingestellt werden. «Drittens erwarten wir, dass die belarussischen Behörden schliesslich einen Dialog mit ihren Bürgern aufnehmen.» Die Einrichtung eines «Nationalrats» mit Vertretern aus Regierung und Zivilgesellschaft könnte ein geeigneter Schritt sein.