Eine türkische Bürgermeisterwahl wird international zum Aufreger. Wieso? Unter anderem, weil da plötzlich ein Herausforderer für Präsident Erdogan aufgetaucht sein könnte. Vom Risiko des Betrugs bis hin zu Szenarien nach der Wahl: die wichtigsten Fragen und Antworten.

Das Wichtigste in Kürze

  • Eigentlich ist es bizarr: Eine türkische Bürgermeisterwahl wird international zum Aufreger.
Ad
Plakate des türkischen Präsidenten Erdogan (L) und des Bürgermeisterkandidaten der CHP für Istanbul, Imamoglu. Foto: Emrah Gurel/AP
Plakate des türkischen Präsidenten Erdogan (L) und des Bürgermeisterkandidaten der CHP für Istanbul, Imamoglu. Foto: Emrah Gurel/AP - dpa-infocom GmbH

Aber am Sonntag schauen viele Menschen in der Türkei und im Ausland auf die Wiederholung der Abstimmung in Istanbul.

Rund 10,5 Millionen Wahlberechtigte sind dann aufgerufen, an rund 31 000 Urnen ihre Stimme abzugeben. Insgesamt treten vier Kandidaten an. Allerdings ist schon sicher, dass es wieder ein Rennen wird zwischen dem Shootingstar der Mitte-Links-Partei CHP, Ekrem Imamoglu (49), und dem Ex-Ministerpräsidenten Binali Yildirim (63), der für die islamisch-konservative Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan antritt. Imamoglu hatte bei der Kommunalwahl am 31. März knapp gewonnen. Wegen angeblicher Regelwidrigkeiten annullierte die Wahlbehörde YSK das Ergebnis aber später und gab damit Einsprüchen der AKP statt.

Die Wahl ist aus zwei Gründen spannend. Zum einen ist sie mittlerweile weit mehr als eine Bürgermeisterwahl. Weil Erdogan die Wiederwahl erzwungen habe, sei sie zum «nationalen Referendum», zum Test für den Präsidenten selbst geworden, schreibt der Türkeiexperte Howard Eissenstat vom US-Rechercheinstitut Pomed (Project on Middle East Democracy).

Und dann ist da Ekrem Imamoglu - der erste seit langem, der sich erfolgreich der Machtmaschinerie der AKP entgegengestellt hat. Für Erdogan-Verdrossene steht er nun als Symbol dafür, dass politischer Wandel in einem Land möglich ist, das zunehmend autokratisch regiert wird. Einige sehen ihn ihm schon den nächsten Präsidenten.

Der Bürgermeisterposten ist der wichtigste im Land. In Istanbul leben mit rund 16 Millionen Menschen fast 20 Prozent aller Türken. Der Wirtschaftsexperte Mustafa Sönmez sagt, Istanbul generiere ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts und 40 Prozent aller Steuereinnahmen. Das Budget ist milliardenschwer. Für die AKP ist die Stadt ein Anker ihrer Macht - die Opposition wirft ihr hingegen Korruption und Klüngelwirtschaft vor. Erdogan hat eine enge Bindung zu Istanbul. Er ist dort aufgewachsen und war mal Bürgermeister.

Aus der AKP ist unter der Hand zu hören, dass auch nach eigenen Umfragen der Oppositionsmann Imamoglu vorne liegt. Die Meinungsforscher des Instituts Konda sahen ebenfalls Imamoglu vorne. Andere Resultate von Umfrageinstituten bieten ein gemischtes Bild. Umfragen sind in der Türkei grundsätzlich mit Vorsicht zu nutzen.

Spannend wird die Frage, welche Seite mehr Nicht-Wähler motivieren kann. Die Wahlbeteiligung ist in der Türkei immer hoch und lag auch bei der Kommunalwahl im März bei 84 Prozent. Berichten zufolge sollen aber rund 1,7 Millionen Bürger nicht gewählt haben.

Der CHP kommen mehrere Faktoren zugute. Zum einen ist die Allianz der Oppositionsparteien auch für die zweite Runde intakt. Mehrere kleine Parteien haben keine Kandidaten aufgestellt, um Imamoglu mehr Chancen einzuräumen, darunter die kurdische Partei HDP. Imamoglu hilft auch, dass er als eher untypischer (gläubiger, konservativer) CHP-Kandidat mögliche AKP-Wähler gewinnen könnte. Ausserdem werfen viele Menschen der regierenden AKP die schlechte Wirtschaftslage vor. Die Preise, vor allem für Lebensmittel, sind stark gestiegen, die Lira hat an Wert verloren, es gab innerhalb eines Jahres rund eine Million Arbeitslose mehr. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 25 Prozent.

Der Vorsitzende des unabhängigen Wahlbeobachter-Vereins Oy ve Ötesi (Stimmen und mehr), Mustafa Köksalan, sagt: «Das türkische Wahlsystem ist besser als sein Ruf.» Seiner Meinung nach wird es schwer, in Istanbul zu betrügen, «weil so viele Leute auf ihre Stimmen aufpassen». An den Urnen werden sich tatsächlich die Wahlbeobachter wohl nur so drängen. Oy ve Ötesi allein hat 7000 Beobachter ausgebildet. Die CHP allein wird 200 000 freiwillige Beobachter entsenden. Ausserdem schickt der Europarat eine 14-köpfige Delegation.

Köksalan betont allerdings auch, dass das System nur funktioniert, solange kein Druck ausgeübt werde auf die Institutionen - so wie nach der ersten Runde. Da hatte der Präsident in scharfen Reden unter anderem von «organisiertem Verbrechen» gesprochen. Anfang Mai entschied die Wahlbehörde YSK dann auf Annullierung - wegen einer Formalie. Der Türkeiexperte Eissenstat sagt: «Tatsache ist, dass die YSK nicht mehr als unabhängige Institution gesehen werden kann.»

1. Der CHP-Kandidat Imamoglu gewinnt: Das wäre ein schwerer Schlag für die AKP. Ihre Glaubwürdigkeit wäre stark angegriffen - und damit auch die des Partei- und Staatschefs Erdogan, sagt der Chef der Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel. Erdogan-Verdrossene im In- und Ausland, die schon auf das Ende der Ära Erdogan hoffen, dürften sich allerdings zu früh freuen. Er sitzt als Präsident fest im Sattel und die nächsten Wahlen finden erst 2023 statt.

Ob die AKP diesmal einen Verlust hinnehmen würde, kommt wohl auch auf das Ergebnis an. In der ersten Runde hatten die Kandidaten zuletzt nur noch rund 14 000 Stimmen auseinander gelegen. Das hatte der AKP genügt, um das Ergebnis in Zweifel zu ziehen. Der Analyst Mehmet Günal Ölcer vom Institut Polimetre meint, der Abstand zwischen Imamoglu und Yildirim müsse mindestens 500 000 Stimmen betragen, um der AKP keinen Raum zu bieten, wieder Neuwahlen zu verlangen.

Ein Sieg allein wäre aber möglicherweise noch nicht das Ende der Wahl-Saga. Die Zentralregierung könne verschiedene Methoden anwenden, den Oppositionsbürgermeister lahmzulegen oder sogar zu disqualifizieren, schreibt der Türkeiexperte Wolfango Piccoli von der Denkfabrik Teneo. Erdogan hat schon angedeutet, Imamoglu könnte nach der Wahl wegen Beleidigung eines Gouverneurs angeklagt werden.

Für die kriselnde Wirtschaft wäre ein CHP-Gewinn gut - zumindest ein unangefochtener. Internationale Anleger und Investoren verweisen immer wieder auf mangelndes Vertrauen in die Rechtssicherheit. Nach der Entscheidung für eine Neuwahl hatte die Lira deutlich reagiert.

2. Der AKP-Kandidat Yildirim gewinnt: In diesem Fall hätten die AKP und Erdogan ihren Machtanspruch bestätigt. Für die Stadt bliebe alles beim alten. Möglicherweise gäbe es Proteste der Opposition. Nach der ersten Wahl hatte die CHP aber zur Ruhe aufgerufen.

Ad
Ad

Mehr zum Thema:

Recep Tayyip ErdoganAbstimmungBinali YildirimKorruptionOppositionLiraLebensmittelEuroparat