Alles teurer: Jetzt fordern Experten höhere Armutsgrenze
Die Lebenshaltungskosten steigen – immer mehr Menschen sind hierzulande von Armut betroffen: Haushalte mit tiefen Einkommen stossen an ihre Spar-Grenzen.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Lebenshaltungskosten in der Schweiz steigen: Strompreise, Mieten, Prämien, Inflation.
- Immer mehr Menschen sind von Armut betroffen – auch in der Schweiz.
- Gerade für Menschen mit tiefen Einkommen ist es oft kaum möglich, noch mehr zu sparen.
Steigende Mieten, steigende Strompreise, steigende Krankenkassenprämien, Inflation und rasanter Kaufkraftverlust – die Lebenshaltungskosten in der Schweiz nehmen zu. Alleine die Strompreise werden im nächsten Jahr um durchschnittlich 18 Prozent ansteigen. Für einen Vierpersonen-Haushalt bedeutet dies eine höhere Stromrechnung – 222 Franken mehr!
Obwohl die Schweiz eines der reichsten Länder der Welt ist, stellt Armut auch hierzulande eine Realität dar: Bereits zu Pandemiebeginn waren rund 722'000 Menschen von Einkommensarmut betroffen – doppelt so viele waren armutsgefährdet.
Gemäss dem Bundesamt für Statistik (BFS) befinden sich diese Zahlen seit 2014 in stetigem Wachstum. Die jüngste Entwicklung der Lebenshaltungskosten dürfte das Armutsproblem in der Schweiz überdies weiter verschärfen.
Wie also sollen Ärmere in der Schweiz künftig über die Runden kommen?
Armut betrifft immer mehr Menschen
Für Philipp Frei vom Dachverband «Budgetberatung Schweiz» steht fest: «Armut betrifft hierzulande immer mehr Menschen – viele Haushalte, die noch genug Geld hatten, müssen jetzt den Gürtel enger schnallen.» Die gesamte Problematik ziehe sich mittlerweile bis tief in die Mitte der Gesellschaft. Gerade diese Entwicklung stelle eine Neuheit dar.
Ähnliche Töne stimmt Andreas Lustenberger vom Hilfswerk «Caritas» an. Der Bereichsleiter Grundlagen und Politik weiss, dass verschiedene Indikatoren auf einen Anstieg der Armutszahlen hinweisen. «Auf unseren Caritas-Märkten verzeichnen wir beispielsweise einen Umsatzanstieg von 20 bis 30 Prozent!»
Obwohl der Strompreis ‹nur› um einige hundert Franken ansteige, summierten sich die Kosten unter dem Strich – Jahr für Jahr. Grundnahrungsmittel, Krankenkassenprämien, Wohnungsmieten, Strompreise: «Die kleinen Wachstumsraten täuschen über die Realität hinweg», erklärt Frei.
Insbesondere bei den sogenannten Fixkosten könne nicht unendlich viel eingespart werden. «Jeder Mensch braucht Nahrung, ein Dach über dem Kopf und Strom», wie Frei betont. Da diese Posten bei Geringverdienern bereits jetzt einen Grossteil der Ausgaben ausmachen, könnten sie oft schlicht nicht noch mehr sparen.
Frühzeitig Hilfe holen
Hinzu komme, dass die Einkommen in der Schweiz in den letzten Jahren nicht ausreichend angestiegen seien: «Mittelstand hiess früher ein Haus, zwei Autos, zwei Wochen Ferien im Ausland – und das alles von einem einzelnen Gehalt. Die Realität heute ist aber, dass dies bei vielen Leuten nicht mehr möglich ist.»
Armut sei ein schleichender Prozess. Er fange mit Einsparungen an, gehe mit Krediten weiter und ende in Schulden. Aus diesem Grund sei es enorm wichtig, dass Betroffene sich rechtzeitig Hilfe holen, erklärt der Geschäftsleiter des Dachverbandes «Budgetberatung Schweiz».
Man müsse sich frühzeitig überlegen, ob die Lebenshaltungskosten auch nächstes Jahr noch gestemmt werden können und beizeiten ein Budget erstellen. Richtig teuer werde es nämlich erst dann, wenn Betroffene anfangen, Schulden anzuhäufen.
Mehr staatliche Unterstützung
Für beide Experten steht allerdings fest, dass es auch mehr staatliche Unterstützungsleistungen für die ärmsten Menschen in der Schweiz brauche: «Wir haben eine ‹harte› Armutslinie bei 3989 Franken im Monat für eine vierköpfige Familie.» Das bedeutet: Sozialhilfe erhält nur, wer nicht mehr verdient als das.
Bedauerlicherweise gebe es deshalb eine grosse Gruppe von Menschen, die bedeutend weniger staatliche Unterstützung erhalten, wie Lustenberger ausführt.
«Diese Menschen sind zu arm, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen – aber nicht arm genug, um staatliche Unterstützung zu erhalten.» Betroffen seien davon in erster Linie junge Familien mit kleinen Kindern.
Aus diesem Grund verlangt der Caritas-Vertreter längerfristig eine Erhöhung der Armutsgrenze um mindestens 500 Franken. Also knapp 4500 Franken. So viel dürften Paare mit zwei Kindern verdienen, und trotzdem Sozialhilfe erhalten.
Auch Frei ist überzeugt: «Dass viele Menschen in einem reichen Land wie der Schweiz kaum Geld zum Leben haben, ist ein absolutes Armutszeugnis!» In absehbarer Zeit stelle aber wohl nur der Ausbau der Prämienverbilligungen einen gangbaren Weg dar, um Linderung zu verschaffen: «Hier hätte man einen realistischen und kurzfristig umsetzbaren Hebel!»