Coronavirus: Ethikerin kritisiert Impf-Pläne des Bundesrats
Privilegien für Träger des Covid-Zertifikats könnten dazu führen, dass Menschen sich für die Impfung gegen das Coronavirus vordrängeln, fürchtet eine Ethikerin.
Das Wichtigste in Kürze
- Ethik-Professorin Biller-Andorno sieht Gefahren im selektiven Zugang via Covid-Zertifikat.
- Dadurch können Menschen ungerechtfertigterweise benachteiligt werden.
- Diese Strategie werde ausserdem das Impfdränglertum beflügeln.
Der Bundesrat stellte am Mittwoch die Öffnungsstrategie aus den Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus vor. Dabei setzt die Landesregierung auf ein Drei-Phasen-Modell.
Ab der zweiten Phase sollen nicht mehr für alle Personen die gleichen Corona-Regeln gelten. In der sogenannten Stabilisierungsphase «soll an gewissen Orten ein selektiver Zugang für Geimpfte, Getestete und Genesene eingeführt werden». Im Klartext: Nur wer ein Covid-Zertifikat hat, kommt rein.
«Covid-Zertifikat kann Menschen ungerechtfertigt benachteiligen»
Nikola Biller-Andorno hat Verständnis dafür, dass Strategien gesucht würden, um eine Öffnung gezielt vorantreiben zu können. Die Professorin ist Direktorin des Instituts für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte an der Universität Zürich. Doch das Timing wirke etwas unglücklich.
«Wir haben - kurioserweise - noch keine funktionalen digitalen Impfpässe. Viele Impfwillige können sich noch nicht einmal registrieren lassen. Und in vielen Apotheken sind keine Testmöglichkeiten vorhanden», sagt Biller-Andorno auf Anfrage.
Wer nicht geimpft oder genesen ist, müsse für ein Covid-Zertifikat zeitliche und finanzielle Ressourcen für ein Testergebnis aufwenden. «Das kann in der Tat manche Menschen ungerechtfertigt benachteiligen.»
Das sei etwa der Fall, wenn jemand auf dem Land relativ weit weg von der nächsten Testgelegenheit wohne. Diese biete obendrauf vielleicht nur den teuren PCR-Test und nicht einen günstigeren Antigen-Schnelltest an.
Ethik-Professorin: «Strategie wird Impfdränglertum beflügeln»
«Ausserdem wird eine solche Strategie das Impfdränglertum beflügeln», warnt Biller-Andorno. Menschen würden versuchen, möglichst rasch an eine Impfung zu gelangen, auch wenn sie noch gar nicht an der Reihe sind.
Sie weist auf einen weiteren Schwachpunkt der Öffnungsstrategie hin. Denn die mögliche Übertragung des Coronavirus von Geimpften und Genesenen ist nicht restlos geklärt. Verschiedene Studien weisen zwar auf eine reduzierte Übertragbarkeit von geimpften Menschen hin. Doch gerade im Hinblick auf die verschiedenen Mutationen des Coronavirus ist noch vieles unklar.
Coronavirus mit alternativen Konzepten in Schach halten
Für Biller-Andorno wäre deshalb die sympathischere Aussicht, gemeinsam in die Öffnung zu gehen. Dies erst, wenn die Risikopopulationen ausreichend geschützt seien, die Schweiz vielleicht sogar eine Herdenimmunität erreicht hätte.
«Sollte dieser Prozess der Normalisierung länger dauern, wird es sich nicht vermeiden lassen, dass Menschen mit Covid-Zertifikat mehr Optionen offenstehen werden als Menschen ohne, zum Beispiel Flugreisen.» Wenn bis dahin jeder geimpft werden könne, stehe es jedem frei, die Abwägung der Vor- und Nachteile selbst zu treffen.
Oft würden auch alternative Konzepte infrage kommen, beispielsweise eine grosszügige Bestuhlung mit viel Distanz und guter Durchlüftung bei kulturellen Veranstaltungen. So wäre es unnötig, die Teilnahme auf Zertifikatsträger zu beschränken.