Coronavirus: Soziologin befürchtet Lockerungsübermut
Seit Montag gelten in der Schweiz wieder deutlich laschere Regeln zum Schutz vor dem Coronavirus. Sendet das gefährliche Signale?
Das Wichtigste in Kürze
- Trotz relativ hoher Fallzahlen dürfen Kinos, Gyms und Beizen-Terrassen wieder öffnen.
- Die ab heute gültigen Corona-Lockerungen sorgen unter Virologen für Kritik.
- Aus soziologischer Sicht lobt eine Expertin die Schritte – warnt aber auch vor Gefahren.
Die einen jubeln über die Öffnungsschritte, den anderen kommen sie viel zu früh: Seit Montag sind Kinos, Theater, Fitnesscenter und Beizen-Terrassen wieder geöffnet. Was löst das in den Köpfen der Menschen aus? Eine Expertin ordnet ein.
Vergangenen Mittwoch hat der Bundesrat über die Lockerungen der Massnahmen gegen das Coronavirus informiert. Damit sorgte er auch für Kritik – aus der Bevölkerung wie auch von Virologen und Wissenschaftlern der Taskforce.
Aus soziologischer Sicht lässt sich an den Lockerungsschritten dagegen weniger aussetzen: Wirtschaftssoziologin Katja Rost sieht sie als «optimistisches Signal, dass die dritte Welle bald zu Ende gehen könnte».
Es sei ein vorsichtiges Entgegenkommen nach einer langen Durchhaltezeit, so die Expertin der Universität Zürich. «Ich glaube, hier sind sich Gesellschaft und Bundesrat momentan sehr einig: Es geht das, was die Situation zulässt», sagt sie gegenüber Nau.ch. «In der kollektiven Wahrnehmung sorgt dies natürlich bei den meisten für vorsichtigen Optimismus.»
Soziologin: «Es dominieren die positiven Effekte»
Während für viele Virologen die Gefahr überwiegt, sieht es aus soziologischer Sicht anders aus. Rost ist sicher: «Es dominieren die positiven Effekte, dass Gemeinschaft wieder möglich wird und auch die Aggression und Frustration nachlässt.»
Die Soziologin erkennt allerdings mögliche Dämpfer für die Psyche. «Eine Gefahr wäre, wenn die Schritte wiederum zurückgenommen werden müssten, obwohl sich alle so darauf gefreut haben.» Es sei zudem zu befürchten, dass die Schutzregeln weniger eingehalten werden, weil die Situation als ungefährlich eingeschätzt werde.
Es könne schnell passieren, dass wir im Herbst wieder an demselben Punkt wie heute stehen würden. Das Problem beim Coronavirus sei ja leider, dass eine geringe Anzahl Regelbrecher ausreiche, um der Gemeinschaft maximalen Schaden zuzufügen. «Insofern sind kontinuierliche Kontrollen extrem wichtig, um zu überwachen, ob sich alle an die neuen Regeln halten.»
Coronavirus: Taskforce verliert weiteres Mitglied
Während Soziologin Rost vor allem die positiven Aspekte der Lockerungen hervorhebt, überwiegt in epidemiologischen Kreisen die Kritik. Für viele kamen die Bundesratsentscheide zum Coronavirus letzten Mittwoch überraschend: Die Öffnungskriterien des Bundesrates waren am Mittwoch alles andere als erfüllt.
Die 14-Tage-Inzidenz und der R-Wert waren zu hoch, Todesfälle und Spitaleintritte lagen über dem gewünschten Wert. Hinzu kommt, dass die Taskforce des Bundes für das Coronavirus zuvor vor Öffnungen gewarnt hatte. Sie plädierte für eine Strategie mit tieferen Fallzahlen.
«Die jetzige Situation ist ein Wettlauf zwischen dem Anstieg von Neuinfektionen und der Durchimpfungsrate», sagte Leiter Martin Ackermann gegenüber «Blick». Die Zunahme von Kontakt und Mobilität nannte er ein «Risiko für die Eindämmung» der Pandemie.
Drastische Konsequenzen zog Neurowissenschaftler Dominique de Quervain. Zwei Tage nach der Lockerungsankündigung verliess er die Taskforce. «Ich halte die vom Bundesrat beschlossenen Lockerungsschritte für einen Fehler», schrieb er auf Twitter.