«Der Magier im Kreml» - Giuliano da Empoli über Putins Gedanken
Der Italo-Schweizer Giuliano da Empoli legt mit «Der Magier im Kreml» den Roman der Stunde vor. Nicht ganz frei von literarischen Klischees gibt er darin frappierende Einblicke in die Gedankenwelt von Wladimir Putin.
Das Wichtigste in Kürze
- Wladislaw Surkow galt um die Jahrtausendwende als wichtiger Einflüsterer im Kreml, bis er auf einmal von der Bildfläche verschwand.
In der mysteriösen Figur von Wadim Baranow taucht er wieder auf. Auf der Spur nach dem angeblich Verschollenen erhält ein Autor eine überraschende Einladung: Baranow will ihn empfangen.
In seiner Figur mischen sich literarische Fiktion und politische Realität. Wladimir Putin, der «Zar», beruft den Liebhaber des Avantgarde-Theaters an seine Seite, damit er für ihn neue politische Strategien entwickelt. Baranow erweist sich dabei als ebenso findig wie wendig. Ihn interessieren weder die Privilegien noch die Macht, sondern nur das spektakuläre Spiel mit ihr.
In seinem Landhaus erinnert sich Baranow nun an seine Karriere. Weit ausholend umreisst er kurz die russische Geschichte bis hin zur desolaten Situation am Ende der Jelzin-Ära, als der fahle Geheimdienstler Putin zur Macht aufsteigt. Mit ihm betritt auch Baranow die politische Bühne, als «Hofnarr» und Ideengeber, der von den traditionellen Eliten scheel angeschaut wird.
Giuliano da Empolis literarischer Erstling ist formal einfach aufgebaut. Der Ich-Erzähler erhält Zugang zum Protagonisten, leiht ihm sein Ohr, bis der Morgen anbricht und er ins feine Schneetreiben entlassen wird. In der nächtlichen Zeitspanne erzählt Baranow von seiner Zeit beim Zaren.
Er zeigt sich dabei als gewiefter Zeremonienmeister, der die Chaos stiftende Trollfabrik in Petersburg oder das Konzept der «souveränen Demokratie» entwickelt hat. Gewieft weist er auch Nebenfiguren wie Putins Widerpart Boris Beresowski oder Eduard Limonow und dem Motorradklub «Die Nächtwölfe» ihre Rollen zu. Baranow inszeniert mit ihnen, was dem Zaren dient.
Giuliano da Empoli beschreitet mit seiner dokumentarischen Fiktion einen schmalen Grat zwischen Wirklichkeit und Klischee. Putin ist Putin, und hinter Baranow verbirgt sich unzweideutig Wladislaw Surkow. Was ist wahr an diesem intimen Bild der Wirklichkeit, was ist Fiktion? Die Grenzen sind flüssig, allem öffentlichen Wissen zum Trotz.
Dennoch verleiht «Der Magier im Kreml» einem Geschichtsbild, das in der täglichen Berichterstattung oft nur verkürzt wiedergegeben wird, und einem politischen Bewusstsein Kontur. Baranow ist der Marionettenspieler, Putin aber der Zeremonienmeister. Aus dessen Vergangenheit bei der Spionageabwehr speist sich die mal subtil, mal brutal ausgeübte Kontrolle über das Personal im Kreml.
«Der Magier im Kreml» vermittelt aller Schwächen zum Trotz einen frappanten Eindruck davon, was Putins reale Politik womöglich antreibt. So könnte es wirklich geschehen, gibt diese erzählerische Fiktion zu bedenken. In dem Sinn verfolgt Giuliano da Empolis «Schlüsselroman» eine dezidiert aufklärerische Funktion.*
*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.