Glaziologe: «... dann dürften bis 2100 alle Gletscher verschwinden»
Gemäss einem Glaziologen könnten so gut wie alle Gletscher bis 2100 verschwinden. Für die Schweiz wäre das zwar «keine existenzielle Katastrophe», aber....
Das Wichtigste in Kürze
- Dieses Jahr wird wohl das zweitschlechteste Jahr für Schweizer Gletscher aller Zeiten.
- Neue Naturgefahren wie Steinschläge oder Fluten sind wegen der Schmelze zu erwarten.
- Bis 2100 könnte der letzte Schweizer Gletscher verschwunden sein.
2023 wird ein weiteres schlechtes Jahr für die Gletscher – auch in der Schweiz. Bis zum Ende des Jahrhunderts könnten die Eismassen weltweit sogar bis zur Hälfte ihrer Fläche verlieren.
Das aktuelle Jahr könnte als «zweitschlechtestes» Jahr in die Geschichte eingehen. Zu diesem Resultat kommt eine neue Studie, die im Fachmagazin «Nature» veröffentlicht wurde.
An der Studie beteiligt war auch ETH-Glaziologe Matthias Huss. Zu Nau.ch sagt er: «Mit den Gletschern schmilzt ein Identifikationsmerkmal der Schweiz weg, ein Stück Heimat.» Möglich, dass die Schweiz diese Identifikation in Zukunft verlieren wird.
Huss: «Falls die Emissionen weiter ansteigen oder sich nur langsam stabilisieren, wird die Temperatur im globalen Mittel um drei Grad und mehr ansteigen. In der Schweiz noch stärker. Und es dürften bis ins Jahr 2100 praktisch alle Gletscher verschwinden.»
«Nicht lebensbedrohlich», aber ...
Allerdings: Das Verschwinden der Gletscher wäre «keine existenzielle Katastrophe für die Schweiz», sagt Huss. «Wir leben in einem gemässigten Klima, wo der Klimawandel zwar starke Auswirkungen auf Extremereignisse und die Biodiversität haben wird. Aber es wird nicht lebensbedrohlich.»
Konkreter würden die Eismassen in Hitzewellen grosse Mengen an Wasser liefern. «Das betrifft dann Bewässerung, Trinkwasserversorgung, aber auch Warentransport auf den grossen Strömen Europas und nicht zuletzt die Tier- und Pflanzenwelt in der Nähe der Flüsse», so der ETH-Forscher.
Zusätzlich sei das Schmelzwasser von grosser Bedeutung für die hiesige Stromproduktion. Ein Rückgang des Gletschers verändere auch die Landschaft in den Alpen. «Neue Naturgefahren wie Steinschläge oder Fluten sind zu erwarten», so Huss. «Die Wasserknappheit wird Mensch und Tier in gewissen Perioden deutlich betreffen.»
Es gibt auch Profiteure vom Gletscher-Sterben
Es gibt aber auch Gewinner. So würde durch den Gletscherrückgang auch «neues» Land entstehen. Heisst: Bereiche, die seit Jahrhunderten unter dem «ewigen Eis» lagen, werden freigelegt.
«Zuerst ist das eine graue Steinwüste, aber die Vegetation holt sich dieses Gebiet relativ schnell zurück», sagt der Glaziologe. «So entstehen neue, wertvolle Rückzugsorte für Tiere und Pflanzen, die durch die Erwärmung anderorts verdrängt wurden.»
Mit der neuen Studie fordern er und das Forschungsteam frühzeitigen Schutz für diese neuen, unberührten Landschaften. Wie die Modellierung der Forschenden zeigt, wird der Gletscherschwund bis 2040 unabhängig vom Klimaszenario mit ähnlicher Geschwindigkeit fortschreiten.
Danach hänge die Zukunft der Eismassen von den ergriffenen Klimaschutzmassnahmen ab. Der Analyse zufolge könnte der weltweite Gletscherschwund mit starken Schutzmassnahmen auf 22 Prozent begrenzt werden.