Keine Pronomen: Experte kritisiert Gender-Trend bei Babys

Rowena Goebel
Rowena Goebel

Basel,

Eltern bezeichnen ihre Babys zunehmend weder als «er» noch als «sie» – ein Schritt gegen schädliche Geschlechterrollen oder Gender-Gaga? Experten ordnen ein.

Baby
Immer mehr Eltern schreiben ihrem Baby kein Geschlecht zu – in Fachkreisen sorgt das aber für Skepsis und gar heftige Kritik. (Symbolbild) - pexels

Das Wichtigste in Kürze

  • Immer mehr Eltern verkünden die Geburt ihrer Babys ohne Pronomen.
  • Die Idee: Die Kinder sollen ihre Identität frei von Geschlechtererwartungen finden.
  • Von Verständnis bis zu heftiger Kritik – die Reaktionen auf die Praxis sind gemischt.

Immer mehr Eltern geben Babys mit eindeutigen Geschlechtsmerkmalen nach der Geburt kein Geschlecht. Ist es ein Er oder eine Sie? Gibts für sie nicht!

Die Eltern nennen Freunden und Familie keine Pronomen. Und wählen einen genderneutralen Namen wie Luca, Andrea oder Kim.

Es geht dabei um die Bezeichnungen im Alltag. Amtlich müssen die Babys trotzdem als männlich oder weiblich eingetragen werden.

Wie die Nau.ch-Umfrage unter Spitälern und Geburtshäusern ergab, gibt es dabei verschiedene Lager.

Einerseits jene, die ihr Kind später frei die Geschlechtsidentität wählen lassen wollen. Andererseits die, die ihr Kind komplett genderneutral – also mit dem Ziel, es werde nonbinär – erziehen wollen.

Die Idee dahinter: Das Kind soll seine Identität frei finden und nicht durch sein Geschlecht definiert werden.

Doch es gibt auch Skepsis – und Kritik.

«Auf Bündnerdeutsch gesagt ein Saich»

Gar nichts von Erziehung ohne Geschlecht hält Kinderpsychologe Philipp Ramming. «Ich finde das auf Bündnerdeutsch gesagt einen Saich», sagt er zu Nau.ch.

Kritisch sieht er den Trend vor allem, weil er ihn an die sexfeindliche Erziehung vor 150 Jahren erinnert. «Auch dabei verschwieg man aus einer Ideologie heraus – damals aus einer religiösen – gewisse Tatsachen.»

Sollten Kinder ihr Geschlecht selbst wählen?

Die Kinder wurden nicht aufgeklärt, man redete nicht über Sex oder die Geschlechtsteile.

Die Folge: «Scham und Schuld. Die Buben hatten keine Ahnung, warum sie plötzlich eine Morgenlatte hatten. Die Mädchen waren schockiert, als sie plötzlich ihre Periode bekamen», sagt Ramming.

Geschlechterlose Erziehung sei das gleiche, einfach neu verpackt.

«Es ist vielleicht gut gemeint. Aber das Leiden der Menschen, die später eine andere Geschlechtsidentität haben, als ihnen der Körper vorgibt, wird dadurch nicht verändert.»

«Gewagtes Unterfangen»

Doch ist es überhaupt realistisch, ein Kind komplett ohne Geschlechtszuschreibungen aufziehen zu können?

«Eine geschlechterneutrale Insel gibt es nicht», gibt Marianne Aepli bei Nau.ch zu bedenken. Die Zugerin hat als Primarlehrerin und Geschlechterwissenschaftlerin selbst mit entsprechenden Eltern zu tun.

Kinder
Kinderkleider sind oft klar gegendert. (Archivbild aus einer Migros-Filiale) - keystone

Sie gibt ihnen zwar recht darin, dass «Kinder immer noch je nach Geschlecht anders sozialisiert werden». «Beispiele sind Spielzeuge oder Kleider: Mädchen haben Blumen auf der Unterhose, Buben Autos.»

Aepli erklärt: «Von all diesen Erscheinungen, symbolisch zusammengefasst in einem Pronomen, möchten sich diese Eltern frei machen. Das ist allerdings ein grosses und gewagtes Unterfangen!»

«Praktisch unmöglich, kein Geschlecht zu erhalten»

Das findet auch Psychotherapeut Udo Rauchfleisch, der regelmässig Menschen zu Fragen im Zusammenhang mit Transidentität berät.

«In unserer stark von binären Geschlechtervorstellungen geprägten Gesellschaft ist es praktisch unmöglich, kein Geschlecht zu erhalten», sagt er.

Braucht es einen dritten Geschlechtseintrag?

Hinzu kommt laut Marianne Aepli: «Kinder erkennen und benennen biologische Unterschiede. So etwa im Alter von drei Jahren wissen sie, ob sie biologisch Mädchen oder Jungen sind.»

Und das wiederum hat einen Einfluss auf die Identität der Kinder. «Ab diesem Zeitpunkt orientieren sie sich sehr daran, was Mädchen oder Jungen machen, was diese ausmacht.»

Pronomen-Frage stellt sich bei kleinen Kindern «gar nicht»

Und was ist mit dem Pronomen-Verzicht – übertrieben oder sinnvoll?

«Ich bezeichne einen pronomenlosen Lebensstart für ein Baby und Kleinkind als sozial problemlos und als Chance», sagt Aepli.

Baby
Primarlehrerin und Geschlechter-Expertin Marianne Aepli sagt: «Ich bezeichne einen pronomenlosen Lebensstart für ein Baby und Kleinkind als sozial problemlos und als Chance.» (Symbolbild) - pexels

«Solche Eltern gehen geschlechtersensibel durchs Leben – das ist aus meiner Sicht ein Gewinn. Schliesslich können Geschlechterklischees sehr hinderlich sein.»

Anders sieht es Rauchfleisch.

«Kinder können erst ab der Pubertät etwas mit dem Konzept der Nonbinarität anfangen», erklärt er. «Aus diesem Grund stellt sich im Kindergarten- oder Primarschulalter gar nicht die Frage, ob auf Pronomen verzichtet werden soll.»

Experte: Man kann Kind «nicht auf das Ziel Nonbinarität erziehen»

Wichtig aber: Dem Kind keine Identität überstülpen, die nicht zu ihm passt.

Aepli betont: Beharren die Eltern nach dem Kleinkindalter konsequent auf Pronomenlosigkeit, «ist das eine Art Fremdbestimmung».

Ein Kind zur Nonbinarität erziehen zu wollen, «halte ich für falsch», sagt auch Udo Rauchfleisch.

Leitlinien und Zielvorstellungen brauche es selbstverständlich.

Hätten dir deine Eltern als Kind andere Pronomen geben sollen?

Aber: «Eltern müssen offen dafür sein, dass ihr Kind sich anders entwickelt. Man kann ein cisidentes Kind nicht auf das Ziel Nonbinarität hin erziehen. Ebenso wie man ein nichtbinäres Kind nicht auf das Ziel der Binarität hin erziehen kann.»

Cisident bedeutet, dass sich jemand mit seinem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht identifiziert. Nonbinär wiederum sind Personen, die sich nicht als Mann oder Frau identifizieren.

«Kinder so erziehen, dass sie wissen, was sie wollen»

Was der Experte aber rät: «Eltern können versuchen, ihr Kind nicht stark geschlechtsrollenkonform zu erziehen. Beispielsweise, indem sie ihm weitgehende Freiheit lassen, wie es sich definieren, verhalten und kleiden will.»

Ein solcher Freiraum tue Kindern auf jeden Fall gut – insbesondere trans Kindern.

Freiraum
Für die Meitli nicht nur Puppen und für die Buben nicht nur Autos: Experten raten, den Kindern Freiraum zu lassen. - pexels

Wichtig zudem: «Je früher eine Person so wahrgenommen wird, wie sie sich fühlt, desto besser ist das für ihre Entwicklung und Gesundheit.»

Oute sich ein Kind als trans, dann sei es wichtig, dass die Umgebung das ernst nehme und akzeptiere.

Kinderpsychologe Philipp Ramming ergänzt: «Das Ziel muss es sein, Kinder so zu erziehen, dass sie stark genug sind, zu sagen, was sie brauchen.»

Kommentare

User #5281 (nicht angemeldet)

Muss man zur Beichte gehen, wenn man falsch gegendert hat?

User #4521 (nicht angemeldet)

Als männlicher Hetero Mann, der mit seinem Geschlecht, in dem Fall männlich, noch nie unzufrieden war, fühle ich mich irgendwie wie ein Exot. -- diva

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