Kids verweigern Schule: Nun sollen Lektionen gestrichen werden
Der Leistungsdruck an Zürcher Schulen führt zunehmend zu Schulabsentismus. Der Zürcher Lehrerverband will deshalb Lektionen streichen. Ein Kantonsrat warnt.

Das Wichtigste in Kürze
- «Die Schule ist überhitzt», sagt GLP-Kantonsrat Christoph Ziegler.
- Der Zürcher Lehrerverband unterstützt seinen Vorstoss, der weniger Lektionen fordert.
- SVP-Kantonsrat Pierre Dalcher warnt hingegen vor schlecht ausgebildeten Schulabgängern.
Die Schule ist für manche Kinder und Jugendliche zum Horror geworden. Zunehmend setzen sie deshalb keinen Fuss mehr in den Unterricht.
In Zürich und St. Gallen ist es sogar so weit gekommen, dass eine spezielle Spitex Schulverweigerinnen und -verweigerer frühmorgens aus dem Bett holen muss. Das Angebot wird von Anfragen überrannt.
Raimund Hohenberger führt den zunehmenden Schulabsentismus auf den Leistungsdruck in der Schule zurück. In Zürich sei dieser Druck extrem, sagte der Geschäftsführer der Psychiatriespitex «we.ho».
«Es ist besorgniserregend»
Der Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverband (ZLV) ist alarmiert. «Es ist besorgniserregend, dass sich Schulabsentismus zu einem so präsenten Thema entwickelt hat.» Dies sagt ZLV-Präsidentin Lena Fleisch zu Nau.ch.
Gleichzeitig betrachtet Fleisch dies mit Blick auf die Zahlen rund um die psychische Gesundheit von Jugendlichen als wenig verwunderlich.
Die ZLV-Präsidentin vermutet, dass der Leistungsdruck ein Haupttreiber für Schulabsentismus ist. «Es lastet sehr viel Druck auf unseren Kindern und Jugendlichen von allen Seiten.» Auslöser seien die Schule selbst, Gleichaltrige, unsere Gesellschaft und das familiäre Umfeld.
«Oft fehlt eine Orientierung»
Die einfache Verfügbarkeit von Vergleichen mit Gleichalterigen beispielsweise via Social Media beeinflusst laut Fleisch zusätzlich negativ. «Oft fehlt eine Orientierung und es herrscht ein eigener Anspruch an Perfektion.»
Dem gerecht zu werden, sei praktisch unmöglich, sagt Fleisch. Die Folge sei zum Beispiel Schulabsentismus.
Als Möglichkeit gegen Schulabsentismus sieht der ZLV einen Lektionenabbau.
«Andere Kantone zeigen, dass die geforderten Kompetenzen auch mit etwas weniger Unterricht erreicht werden könnten. Hier könnte man etwas ändern», sagt Fleisch.
Kinder und Jugendliche hätten viel Unterricht. «Gepaart mit vielen Freizeitaktivitäten ergibt das intensive Tage.»
Fünf Prozent weniger Lektionen
Damit unterstützt der ZLV einen Ende 2024 im Kantonsrat eingereichten Vorstoss. Dieser fordert den Regierungsrat auf, die Anzahl der Pflichtlektionen an der Volksschule um fünf Prozent zu senken. Der Vorstoss stammt von GLP-Kantonsrat Christoph Ziegler.
Aktuell haben Erst- und Zweitklässler im Kanton Zürich 24 Lektionen pro Woche. In der dritten und vierten Klasse sind es 27 und in den letzten beiden Primarstufen 30 Lektionen.
In den ersten beiden Sek-Jahren stehen 35 und 34 Lektionen auf dem Stundenplan. Im letzten Jahr sind es je nach Abteilung 32 bis 36 Lektionen.
Zeit für Erholung bleibe kaum
Christoph Ziegler sieht vor, in der Primarschule eine bis zwei Lektionen pro Woche zu streichen. In der Sek sollen es zwei Lektionen pro Woche sein.
«Schülerinnen und Schüler fühlen sich immer häufiger gestresst, ihr Tag ist durchgetaktet», argumentiert er im Vorstoss. Zeit für Erholung bleibe kaum.
Psychische Probleme nähmen ein besorgniserregendes Ausmass an. «Mit einer Reduktion von ein bis zwei Lektionen pro Woche bekommen die Schülerinnen und Schüler etwas Luft und mehr Zeit.»
Ziegler arbeitet seit über 30 Jahren als Seklehrer. Er habe noch nie so viele Schülerinnen und Schüler mit psychischen Problemen erlebt, sagt er zu Nau.ch. «Plötzlich wurde auch Schulabsentismus zu einem dringenden Problem.»
Er hat den Eindruck, dass das Schulsystem am Anschlag läuft. «Die Schule ist überhitzt.» Neben den Schülerinnen und Schülern werde auch den Lehrpersonen, Schulleitungen und Schulpflegen immer mehr aufgebürdet.
«Würde man mit den Pflichtlektionen um fünf Prozent runtergehen, wäre man im Kanton Zürich im Schweizer Mittel.» Die Kantone Aarau, Basel, Luzern und Wallis hätten klar weniger Pflichtlektionen als Zürich. Ziegler will keine Vorschläge dazu machen, welche Lektionen abgebaut werden müssten. «Dies soll der Bildungsrat mit den Verbänden bestimmen.»
Negative Folgen für Übertritt befürchtet
Im Kantonsrat dürfte der Vorstoss gute Chancen haben. Auch eine FDP-Kantonsrätin und ein EVP-Kantonsrat haben diesen unterzeichnet. Skeptisch ist hingegen SVP-Kantonsrat Pierre Dalcher von der Bildungsaufsichtskommission.
Dalcher befürchtet negative Folgen für den Übertritt ins Gymnasium und in die Berufslehre.
«Bauen wir Lektionen ab, haben wir unter Umständen schlecht ausgebildete Schulabgänger», sagt er zu Nau.ch. Zudem sei es schwierig, am richtigen Ort zu reduzieren. Auch Zeichnungslektionen könne man nicht einfach so streichen.
Auch glaubt er, dass Teilzeitarbeit dadurch noch beliebter wird. «Die heutigen Mitarbeitenden wollen nicht mehr 100 Prozent, sondern nur noch 80 Prozent arbeiten», kritisiert er. Trotzdem wollten sie leitende Positionen besetzen. «Aber das geht nicht immer alles so toll.»
Weniger Lektionen in St. Gallen
Lerndefizite befürchtet Christoph Ziegler nicht. Fast alle anderen Kantone hätten weniger Lektionen pro Woche, schreibt er im Vorstoss. Resultate zeigten, dass mehr Lektionen nicht unbedingt zu besseren Schulleistungen führten.
Der Kanton St. Gallen reduziert Lektionen ab kommendem Schuljahr. Die Klassenlehrpersonen sollen dadurch mehr Zeit für anspruchsvolle Aufgaben ausserhalb des Unterrichts haben. Die Drittklässler haben etwa eine Lektion Englisch, die Sechstklässler eine Lektion Musik weniger.