Lehrstellen-Stress wegen Corona treibt Junge zur Gewalt an Eltern

Rowena Goebel
Rowena Goebel

Bern,

Während des Lockdowns ist es in der Stadt Bern vermehrt zu Jugendgewalt an Eltern gekommen. Von Lehrstellen-Frust bis Homeoffice – die Gründe sind vielseitig.

Häusliche Gewalt
Auch Eltern können von häuslicher Gewalt durch ihre Kinder betroffen sein. - dpa

Das Wichtigste in Kürze

  • Im Lockdown letzten Frühling wurden in Bern mehr Fälle von Gewalt an Eltern gemeldet.
  • Diese Form von häuslicher Gewalt ist in den vergangenen Jahren angestiegen.
  • Ein Kriminologe und die Stadt Bern erklären die Hintergründe.

Das Coronavirus bringt auch zahlreiche soziale Probleme mit sich – eines davon ist häusliche Gewalt. Während des ersten Lockdowns im vergangenen Frühling gab es in der Stadt Bern allgemein mehr entsprechende Meldungen. Ins Auge sticht dabei ein Anstieg der Fälle von Gewalt an Eltern durch ihre jugendlichen und erwachsenen Kinder.

In den vergangenen Jahren hat diese Form der Gewalt zugenommen, schreibt die Stadt Bern in einer Mitteilung von gestern Mittwoch. Im Frühjahr 2020 waren solche Fälle besonders häufig.

Corona-Zukunftsangst sorgt für Familien-Zoff

Die Stadt geht davon aus, dass das in direktem Zusammenhang mit der Pandemie steht. Ester Meier erklärt: «Gründe für Spannungen waren etwa das Homeoffice, Schulschliessungen sowie Arbeitslosigkeit und die Angst davor.» Doch auch finanzielle Einbussen, beispielsweise wegen Kurzarbeit, eine fehlende Struktur und wenig Ausgleichsmöglichkeiten in der Freizeit seien belastend gewesen.

Coronavirus
Kann für Spannungen in der Familie sorgen: Die Arbeit aus dem Homeoffice. - Keystone

Was für die Jugendlichen auch nicht einfach ist: «Es ist viel schwieriger, eine Lehrstelle zu finden. Es gibt weniger Schnupperstellen und kaum Praktika.» Ausserdem fehlten Sportmöglichkeiten, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen Gelegenheit bieten konnten, sich abzureagieren.

Kriminologe: «Kinder schlagen vor allem, wenn Eltern schlagen»

Fälle von Gewalt an Eltern hängen aber natürlich nicht ausschliesslich mit dem Coronavirus zusammen. Der Kriminologe Dirk Baier von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW sagt zu Nau.ch: «Anlässe für Gewalt gegen Eltern sind immer Meinungsverschiedenheiten, Auseinandersetzungen, Konflikte.»

Die Ursachen hier seien primär darin zu suchen, wie die Eltern in der Vergangenheit vorgelebt haben, wie in solchen Situationen zu reagieren ist.

Dirk Baier
Professor Dirk Baier forscht am Institut für Delinquenz und Kriminalprävention der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. - ZHAW

«Kinder schlagen vor allem dann, wenn auch die Eltern schlagen», sagt Baier. Ein entsprechender wissenschaftlicher Befund sei wiederholt bestätigt worden: «Wenn Eltern sich gegenseitig Gewalt antun oder wenn sie in der Erziehung der Kinder Gewalt anwenden, dann ist das Risiko, dass sich die Kinder ihnen gegenüber genauso verhalten, sehr hoch.»

Mädchen werden in der Familie gleich oft tätlich wie Jungen

Interessant ist, dass weibliche Jugendliche ähnlich häufig körperliche Gewalt gegen die Eltern ausüben wie männliche. Opfer ist öfter die Mutter als der Vater.

Doch: «Wie Kinder mit Eltern umgehen, lässt nicht unbedingt darauf schliessen, wie sie beispielsweise mit Gleichaltrigen umgehen», erklärt Baier. Heisst: Nicht alle Teenager, die Zuhause gewalttätig werden, werden auch ausserhalb der Familie übergriffig.

Stadt Bern geht von hoher Dunkelziffer aus

Die Berner EKS-Leiterin Ester Meier geht von einer hohen Dunkelziffer aus. «Viele Betroffenen schämen sich, wenn sie als Eltern quasi die eigenen Kinder nicht im Griff haben.» Und erst recht, «wenn es wirklich zu körperlicher Gewalt kommt».

Symbolbild - Häusliche Gewalt
Die Dunkelziffer bei häuslicher Gewalt dürfte hoch sein – viele Eltern schämen sich, ihre Kinder «nicht im Griff» zu haben. (Symbolbild) - dpa

Doch nicht nur Scham hält Eltern davon ab, solche Tätlichkeiten zu melden. Man will schliesslich seine Kinder nicht unbedingt verpetzen. «Viele reden sich ein, die Probleme seien nur vorübergehend und es werde bald wieder besser.»

Viele Eltern stufen Gewalt der Kinder als nicht drastisch ein

Dirk Baier verweist bezüglich der Dunkelziffer auf Studien aus Deutschland – aus der Schweiz seien ihm keine bekannt. Ihnen zufolge kommt physische Gewalt gegen Eltern etwa in jeder 20. Familie mit Jugendlichen vor.

Würden Sie Ihr Kind melden, wenn es Ihnen gegenüber gewalttätig würde?

«Die Zahlen, die wie derzeit in Bern bekannt werden, bilden damit wirklich nur die Spitze des Eisbergs», so der Kriminologe. Auch ihm sind mehrere Gründe bewusst, aus denen Eltern ihre Kinder nicht melden. So habe es neben der Scham auch damit zu tun, dass die Eltern die Gewalt als nicht so drastisch einstufen.

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