Eine Baslerin kann ihr Zweijähriges nicht beruhigen und lässt es kurzerhand an einer Haltestelle stehen. Das Kind bleibt eine gute Minute allein zurück.
Haltestelle Heiliggeistkirche
Hier ist es passiert: Ein Kleinkind stand weinend und allein an einer Haltestelle. Seine Mutter hatte es wegen seines Benehmens stehen lassen. - Nau.ch

Das Wichtigste in Kürze

  • Eine Mutter kann ihr schreiendes Kleinkind nicht beruhigen und hat genug: Sie läuft davon.
  • Für eine gute Minute bleibt das weinende Kind an einer viel befahrenen Kreuzung zurück.
  • Experten erklären: Häufen sich solche Vorfälle, sind bleibende Schäden zu befürchten.
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«Es war ein bizarrer Anblick», berichtet eine Basler Nau.ch-Leserin. «Plötzlich steht dort ein Kleinkind an der Haltestelle und klammert sich wimmernd um eine Stange. Im wahrsten Sinne des Wortes mutterseelenallein.»

Die Leserin hatte das Kind bereits im Tram bemerkt. «Es war schwer zu überhören – das etwa Zweijährige schrie ununterbrochen und schlug um sich.» Kein Wort seiner Mutter habe es zu beruhigen vermögen.

«Ein klassischer Wutanfall eben», meint die Leserin. So etwas bekäme man im ÖV ja immer wieder mal mit. Doch dann ...

Kann man ein zweijähriges Kind bei einem Wutanfall allein lassen?

Als sich das Kind auch an der Haltestelle nicht beruhigt, meint die Mutter kurzerhand: «Also, tschüss.»

Leserin «schockiert»

Die Leserin dreht sich perplex um – und tatsächlich: Sie sieht nur noch den Rücken der Mutter, als diese in die Weite der langen Güterstrasse in Basel läuft.

«Ich bin extra noch schnell in den Coop nebenan gegangen. Ich wollte die Situation im Blick behalten», erzählt die «schockierte» Leserin. Als sie zurück aus dem Laden kommt, ist das Kleine immer noch allein. Erst dann sieht sie «in der Ferne, dass die Mutter zurückkehrt».

In 20 Jahren erzähle das Kind doch genau dieses Ereignis seinem Therapeuten, meint die Leserin. Denn sie glaubt: Dass die Mutter das Kind einfach so stehen liess, hinterlasse psychische Schäden.

Ob dem wirklich so ist? Nau.ch hat sich bei zwei Fachpersonen erkundigt.

Kinderexperten warnen vor Langzeitfolgen

Kira Ammann, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Bern, und Felix Hof, Familientherapeut, sind sich einig: So pauschal lässt sich das keinesfalls sagen. Sofern es sich um einen Einzelfall handelt, sollte das Kind keine langfristigen Folgen tragen.

«Allerdings werden Erinnerungsspuren bleiben und zu einer erhöhten Wachsamkeit des Kindes führen», meint Hof. «Wirklich ernst wird es aber erst, wenn sich solche Vorfälle häufen.» Dann würde beim Kind eine Bindungsunsicherheit gekoppelt mit Verlustängsten eintreten, so der Psychologe.

Tram Innen
Das etwa Zweijährige hatte bereits während der gesamten Tram-Fahrt ununterbrochen geschrien.
Haltestelle Heiliggeistkirche
Auch als sie bei der Haltestelle ausstiegen, konnte sich das Kind nicht beruhigen.
Güterstrasse
Jetzt hat sie genug. «Also, tschüss», meint die Mutter und läuft davon.
Kreuzung Heiliggeistkirche
Das Kind verbleibt mutterseelenallein an der viel befahrenen Kreuzung der Heiliggeistkirche.

Ammann ergänzt mit Ergebnissen aus der Bindungsforschung: «Wiederholtes Alleinlassen kann neben akuten emotionalen Reaktionen wie Panik, Angst und Verzweiflung auch chronischen Stress verursachen.» Dieser habe dann längerfristig emotionale und soziale Auswirkungen.

Bindungsstörungen, die in der Kindheit entstehen und unbehandelt bleiben, könnten im Erwachsenenalter langfristige Auswirkungen haben. Dies zeige sich etwa in Schwierigkeiten, enge Beziehungen aufzubauen, in Problemen bei der Emotionsregulation, geringem Selbstwertgefühl oder in psychischen Erkrankungen.

Keine Kontrolle über eigenen Wutanfall

«Das Verhalten der Mutter war sicher nicht optimal», greift Hof die Situation wieder auf.

Auch wenn es möglicherweise ein Ausdruck von Überforderung, Überbeanspruchung, Ohnmacht und Hilflosigkeit gewesen sei. Die Wirkung bleibe gleich: «Das Kind macht die Erfahrung, dass es mit seinen starken Gefühlen allein gelassen wird. Ja, sogar den ‹Verlust› der Mutter riskiert.»

Kannst du bei einem schreienden Kind die Ruhe bewahren?

Sofern möglich, sollten Erziehungspersonen immer versuchen, angemessen und positiv auf die Äusserungen ihres Kindes zu reagieren. Dabei helfe es zu wissen: Wutausbrüche sind sehr heftige Gefühlsausbrüche, die das Kind zum Teil nicht kontrollieren kann.

Dies bekräftigt auch Entwicklungswissenschaftlerin Ammann: «Die Regulierung von Gefühlen gehört zu den Entwicklungsaufgaben.» Kinder müssten den Umgang mit schwierigen Gefühlen wie Frustration, Wut oder Stress in den ersten sechs Lebensjahren erst noch erlernen.

«Ich sehe, dass du wütend bist, weil ...»

Das brauche Zeit, Übung und die Unterstützung durch Erziehungspersonen. Für den Umgang mit schwierigen Situationen wie einem Wutanfall betont Ammann: «Ruhe und Gelassenheit vermitteln Kindern Sicherheit.»

Entsprechend helfe es, möglichst freundlich, ruhig und zugewandt zu bleiben und gemeinsam mit dem Kind die Situation auszuhalten. Dazu gehöre, die Wut des Kindes anzuerkennen, Verständnis zu formulieren und es in seinen Gefühlsausbrüchen zu begleiten.

Hilfreiche Sätze seien etwa «Ich sehe, dass du wütend bist, weil ...» oder «Ich kann verstehen, dass XY dich wütend macht …». Letztendlich gehe es in Eltern-Kind-Beziehungen immer um Zuwendung, Respekt, Vertrauen und Verlässlichkeit.

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