Nick Cave und die starken Männer
Mehr als zwei Stunden lang begeisterten Nick Cave and The Bad Seeds am Samstagabend am 56. Montreux Jazz Festival. Das Konzert war eine emotionale Aneinanderreihung berauschender Showdowns - und auch ein bisschen Arbeit.
An einem Nick-Cave-Konzert in der Mitte der ersten Reihe zu stehen, ist ein Job. Dem Publikum mag es in seiner Anfangseuphorie entgehen, doch der Sänger schart schon während der ersten Songs eine Handvoll grosser, starker Männer um sich. Wie ein Trickkünstler, der mit Gesten wie Händedrücken oder tiefen Blicken direkt in die Augen von seiner wahren Absicht ablenkt, flüstert er immer wieder «Komm her, komm näher». Er winkt Zuschauer aus den hinteren Reihen heran und entschuldigt sich bei denen, deren Sicht nun genommen wird. Was das soll, wird sich zeigen.
Genau genommen ist schon der Beginn des Konzerts im Auditorium Stravinski ein kleiner Showdown. Mit dem Opener «Get Ready for Love» ist die Stimmung innert Sekunden auf höchsten Niveau. Bei «From Her to Eternity», der dritten Nummer auf der Setlist, spielen die Bad Seeds schon ihre ersten epischen Momente aus. Etwa wenn Multiinstrumentalist Warren Ellis, von Cave später «eine wunderbare Person» genannt, seine Geige wie eine Gitarre spielt.
An anderen Konzerten könnte dies die letzte Nummer der Zugabe sein und alle gingen berauscht nach Hause. Doch bei Nick Cave and The Bad Seeds ist sowas erst der Anfang. In diesem Fall der grosse, fantastische Sturm vor der einer längeren Ruhephase, die Cave kurz darauf mit «O Children» einläutet. Einem Lied für Kinder, einigen vielleicht aus dem Film «Harry Potter and the Deathly Hallows – Part 1» bekannt. «Lift up your voice», singt der 64-Jährige, und seine Band stimmt mit ein: «erhebt eure Stimmen».
Die grossen, starken Männer in der ersten Reihe haben inzwischen erkannt, warum sie da stehen. Mehr als einmal hat sich Nick Cave bereits über das Publikum gebeugt. Im vollen Vertrauen, dass seine Auserwählten ihn stützen. Er hat seine grossen Hände in zahllose andere Hände gelegt, hat von einer Frau den Fächer ausgeliehen und theatralisch mit dem Finger auf Einzelne gezeigt, als würden sich seine Texte nur an sie persönlich richten. An einem Nick-Cave-Konzert ganz vorne zu stehen, ist nicht nur ein Job, es ist auch eine grosse Freude.
Und während ruhigeren Titeln bleibt denn auch Zeit, um Nick Cave, dem Poeten und grossartigen Geschichtenerzähler, einfach zuzuhören. Wie er von galoppierenden Pferden mit flammenden Mähnen erzählt, den «Pferden der Liebe» («Bright Horses»), vom Warten auf das Erwachen seiner Liebe, deren Seele ein Anker ist, der nicht mehr gelichtet werden will («Waiting for You») oder über die eigene Transformation («Jubilee Street»).
Dazwischen «I Need You» aus dem 2016er-Album «Skeleton Tree». Der Song, den der von schweren Schicksalsschlägen getroffene Künstler kürzlich in Spanien seinen zwei verbliebenen Söhnen Luke und Earl gewidmet hat. Caves Sohn Arthur kam 2015 im Alter von 15 Jahren bei einem Unfall ums Leben, Sohn Jethro starb erst in diesem Jahr – mit 31 Jahren. «Keep breathing» wiederholt Nick Cave zum Ende des Songs. Immer und immer wieder, «atme weiter», es ist der emotionalste Moment des Abends.
Doch dann dreht die Band erneut auf und der Frontmann wendet sich wieder seinen Fans zu, legt sich zu «Tupelo» ein weiteres Mal auf sie drauf. «Wenn ich heute auch noch auf dein Gesicht knie, dann willkommen im Rock'n'Roll», sagt er zu einer Frau. Der zweite Showdown des Abends hat begonnen. Und wenn der Saal zwischen den Songs einmal ganz ruhig ist, dann schreien Einzelne, dass Nick Cave ein lebender Held sei und sie ihn immer mehr lieben als er sie. «Nein», widerspricht der Musiker, der das Publikum in Montreux die «Good Seeds» nennt, «das tut ihr nicht».