Sind Dörfler rassistischer und frauenfeindlicher?
Städter erleben gleich mehrere fremdenfeindliche und sexistische Zwischenfälle auf dem Land. Zufall – oder ein Stadt-Land-Phänomen?

Das Wichtigste in Kürze
- Städter sind schockiert über rassistische und frauenfeindliche Erlebnisse auf dem Land.
- Tatsächlich gibt es in der Stadt wohl mehr Fälle von Diskriminierung.
- Trotzdem: Diskriminierende Einstellungen sind auf dem Land verbreiteter.
Im Winter prallen Welten aufeinander – viele Flachländler strömen fürs Skifahren, Snöben und Wellnessen in die Bergdörfer. Menschen aus der Stadt, aber auch vom Land.
Gleichzeitig arbeiten zahlreiche Menschen aus dem Ausland im Tourismus. Nicht zuletzt haben die Touris beim Einkaufen oder im Ausgang mit Einheimischen zu tun.
Kurz: Die unterschiedlichsten Menschen aus den unterschiedlichsten Umfeldern interagieren hier. Und das konfrontiert viele damit, wie gegensätzlich die Weltanschauungen sein können.
Teilweise geht es jedoch über Unterschiede hinaus.
«Scheiss-Deutscher»
Gleich mehrere Leser aus Schweizer Städten haben Nau.ch zuletzt über Zwischenfälle auf dem Land berichtet, die sie schockiert haben.
Zwei Gäste aus Zürich und Bern beispielsweise hören in einer Berner Oberländer Skibeiz, wie ein anderer Gast einen Kellner «Schei**-Deutschen» nennt.

Ein Leser aus der Stadt Bern berichtet, wie er in einem Bündner Bergdorf rassistisch angegangen wird. Der junge Mann mit ostasiatischen Wurzeln ist in der Schweiz aufgewachsen und spricht nur Berndeutsch.
«Als ich im Ausgang mit meinem Kollegen zu einem Mundart-Lied mitsang, kam plötzlich ein fremder Typ zu mir. Er fragte mich hässig, warum einer wie ich da mitsingen würde.»
Der Mann lässt nicht vom Berner ab, provoziert immer wieder. «Ich habe ihn ignoriert. Nach langen Minuten gab er schliesslich auf.»
Trotzdem – der Zwischenfall beschäftigt den Berner. «So etwas ist mir in der Stadt noch nie passiert», sagt er.
«Kein Respekt vor Frauen»
Doch nicht nur Berichte über Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sind darunter.
Nach einem Anlass in einem Berner Oberländer Bergdorf werden eine Stadtberner Nau.ch-Leserin und ihre Kollegin mehrmals von betrunkenen Männern belästigt.
«Zuerst legte ein fremder Typ beim Vorbeigehen einfach den Arm um mich.»
Wenig später kommt ein anderer Mann auf ihre Kollegin zu und klopft einen Sexisten-Spruch: «Hey, wenn du mal lächeln würdest, wärst du so eine hübsche Frau!»
Für die Leserin ein «Kulturschock» – sie sagt: «Kein Respekt vor Frauen. In der Stadt wirst du vielleicht mal von Randständigen angequatscht. Aber dort waren es die gut in die Gesellschaft integrierten Füdli-Bünzlis!»
Zufall – oder sind Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Sexismus auf dem Land tatsächlich verbreiteter?
In der Stadt gibt es mehr Diskriminierungsfälle, aber ...
Eine schweizweite Statistik von Diskriminierungsfällen nach Stadt und Land gibt es zwar nicht.
Eine Befragung der ZHAW zeigt jedoch: «In städtischen Gebieten sind höhere Opferraten von Hass-Straftaten vorhanden», erklärt Kriminologe Dirk Baier bei Nau.ch.

Das heisse aber nicht, dass Rassismus und Sexismus dort verbreiteter sind. «Vielmehr ist hier die Sensibilität für das Thema höher. Daher erfolgen eher Anzeigen.»
Ein weiterer Grund: Angehörige von diskriminierten Minderheiten sind eher in der Stadt zu finden. Weil sie in der Stadt leben, werden sie auch dort angegriffen.
Ausländerfeindliche Einstellung im ländlichen Raum verbreiteter
Nur die Anzahl Diskriminierungsfälle anzuschauen, wäre also zu kurz gegriffen. «Ich denke, dass man eher auf die Einstellungsebene gehen muss», sagt Baier.
Heisst: «Nach der Frage, ob feindliche Einstellungen gegenüber verschiedenen Bevölkerungsgruppen im ländlichen Raum verbreiteter sind als im städtischen.»
Dann zeichnet sich ein anderes Bild ab.
Eine ZHAW-Studie mit Erwachsenen zeigte: «Rechte Einstellungen, die sich unter anderem aus Ausländerfeindlichkeit, Homophobie und Islamophobie zusammensetzen, sind im ländlichen Raum verbreiteter.»
Das zeigte sich auch in einer Jugendstudie. Die Erwachsenen-Studie belegte zudem, dass solche Einstellungen auf dem Land zuletzt stärker gestiegen sind.
Kein Kontakt = mehr Vorurteile
Dieses Stadt-Land-Gefälle lässt sich unterschiedlich erklären.
Ein Faktor ist laut Baier der Kontakt. «Kontakt zu anderen Bevölkerungsgruppen senkt Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit», erklärt er.
«Wer wenig oder keinen Kontakt hat, nimmt die anderen nur als Gruppe und nicht als einzelne Personen wahr. Das geht damit einher, dass man sich von der Fremdgruppe eher bedroht fühlt.»

Zweitens gebe es ein Stadt-Land-Bildungsgefälle: «In ländlichen Regionen ist ein durchschnittlich geringeres Bildungsniveau vorhanden. Bildung schützt vor Vorurteilen.»
Dorfkinder werden öfter autoritär erzogen
Drittens spiele die schlechtere ökonomische Situation im ländlichen Raum eine Rolle. «So fühlt man sich im Vergleich zu anderen – insbesondere den Ausländern – eher zurückgesetzt. Das verstärkt Vorurteile.»
Viertens: «Auf dem Land wird noch stärker autoritär erzogen. Das heisst, Kinder werden zu Gehorsam, teilweise auch mit Gewalt, erzogen.»
Dieser Erziehungsstil führe häufiger zu sogenannt autoritären Persönlichkeiten. «Diese orientieren sich stärker an konservativen Werten und sind aggressiver gegenüber allem, was nicht in dieses Weltbild passt.»
Kurz: Auch wenn der städtische oder ländliche Wohnort nicht der stärkste Einflussfaktor ist: Tatsächlich sind diskriminierende Einstellungen auf dem Land verbreiteter.