Verzweiflungsschreie aus Moria: Flüchtlings-Blog einer Afghanin
Flüchtlinge, die übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen versuchen; Menschen, namenlos, in der Hoffnung auf Freiheit oder einfach nur auf eine Existenz. Eine junge Afghanin im Flüchtlingslager Moria gibt ihnen eine Stimme.
Das Wichtigste in Kürze
- «Briefe an die Welt aus Moria», so lautet der Untertitel eines schmalen Büchleins, das berührende Schlaglichter wirft auf die verschiedenen Menschen im berüchtigten Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos.
Geschrieben hat die Texte die 16-jährige Parwana Amiri aus dem westafghanischen Herat.
Amiri hat im vergangenen Jahr einige Monate in Moria gelebt. 2018 war sie mit ihrer Familie aus Afghanistan geflüchtet und dann auf Lesbos gestrandet; unterdessen leben sie und ihre Familie auf dem griechischen Festland. «Als ich, in Moria angekommen, die täglichen Probleme all dieser Menschen sah, konnte ich nicht untätig bleiben. Ich musste etwas tun», schreibt Amiri im Vorwort.
«Etwas tun» hiess für sie, einen Blog zu schreiben. Entstanden sind 14 Briefe, die von Not, Armut, Krankheit, Gewalt, Angst, Demütigung handeln - und vor allem von der Entwürdigung der Menschen. Einige in schneidend-anklagendem und verzweifelt-wütendem Ton.
Das Vorwort schrieb Amiri aus der eigenen Perspektive. Die Briefe basieren auf Gesprächen mit verschiedenen Menschen im Lager. Diese Menschen erzählen selbst, bekommen eine eigene Stimme. Amiris Verdienst: Was noch vor einem Jahr, vor der Corona-Pandemie, in den Schlagzeilen im sicheren Mitteleuropa, in der Schweiz, als «Flüchtingswelle» oder «Flüchtlingsstrom» bezeichnet wurde, zerfällt. Der einzelne Mensch mit seinem Schicksal, seinen Träumen und Wünschen tritt in den Vordergrund.
Zum Beispiel die junge Frau, im Teenager-Alter, die sich vor den begehrlichen Blicken junger und älterer Männer schützen muss oder eine junge Transgender-Person, die in Afghanistan in Lebensgefahr war. Oder die alte Frau, sie erzählt vom Brotbacken, um Medikamente für ihren kranken Mann kaufen zu können.
Oder: «Ist das wirklich Europa? Ist das der Kontinent der Hoffnung? Wo schimmert dieses Licht der Hoffnung für unsere Kinder? Nirgends! Das Licht in unseren Herzen geht nicht an. Europa löscht unsere Hoffnungen aus, und wir sind immer noch in der Dunkelheit gefangen», heisst es im Brief «Ich bin die Mutter von zwei kranken Babies».
Immer wieder kommen Mütter und Väter zu Wort, die verzweifelt versuchen, medizinische Versorgung für ihre kranken Kinder zu bekommen, und dabei fehlen ihnen nur ein paar Euros, um die Busfahrt ins nächste Spital zu bezahlen. Oder sie verbringen Stunden, um für Essen anzustehen, bis sie keine Kraft mehr finden.
Moria war einst für 3000 Menschen gebaut worden, mittlerweile hausen im grössten Flüchtlingslager Europas mindestens 13'000 Menschen - manche sprechen von über 20'000 -, oft in erbärmlichen Zelten ohne funktionierende Kanalisation.
Die junge Afghanin Amiri hat ihren Blog zwischen Oktober 2019 und Januar 2020 auf Englisch geschrieben. Für die Reihe «essais agités» hat ihn die Schweizer Autorin Johanna Lier ins Deutsche übersetzt. Er liegt nun unter dem Titel «Meine Worte brechen eure Grenzen. Briefe an die Welt aus dem Lager Moria» vor.