Ben Vautier und Gleichheit im Recht auf Verschiedenartigkeit
Der Künstler Ben Vautier polarisierte an der Weltausstellung 1992 mit seinem Werk «La Suisse n'existe pas». Ein Kommentar von Europa-Wissenschaftler Felix Brun.
Das Wichtigste in Kürze
- Europa-Experte Felix Brun kommentiert Texte bedeutender Schweizer Persönlichkeiten.
- In diesem letzten Artikel befasst er sich mit dem Künstler Ben Vautier.
Ben Vautier verbringt eine kosmopolitische Kindheit mit Aufenthalten im Mittelmeerraum und in der Schweiz. Er wird 1935 als Kind eines Schweizer Malers und einer weit gereisten Mutter in ein Haus «mit einer von der Sonne voll beschienenen Terrasse» in Neapel geboren.
Seine frühe Kindheit, in welche zahlreiche Wohnorts-Wechsel in verschiedene Länder mit ganz unterschiedlichen Sprachen fallen, prägt Vautier dauerhaft. Eine wichtige Erfahrung aus dieser Zeit ist für Vautier die Realität einer multikulturellen Welt, die zwar einerseits reich und bereichernd, andererseits aber auch schwierig und haltlos ist.
Nach seiner Ankunft in Nizza im Jugendalter findet Vautier über Kunstbücher zur Kunst. Bald fängt er mit Freunden an, selbst Kunst zu machen. Die Provokation ist eines der ersten Merkmale von Vautiers Arbeit.
Über die Kunst sagt er einmal: «Die Kunst muss schockieren, und sie muss neu sein.» Veränderung ist für Vautier ein Lebensgesetz, eine Erfahrung, die er aus seiner Kindheit mitnimmt. Was sich ändert, das lebt, was still steht, das ist tot.
Ben Vautiers «Le Magasin» und die Tableaus
«Le Magasin», der Plattenladen, den Ben Vautier in Nizza aufbaut, wird unter ihm schon bald zu einem wichtigen Treffpunkt der lokalen Kunstszene. Mit den Erkennungszeichen, seinen Schrifttafeln, beginnt Vautier nun, den Plattenladen zu verzieren.
Jeder Gedanke wird aufgeschrieben und schliesslich als Tableau, als Bild, aufgehängt und verkauft. Das Wort, der Gedanke als Bild – etwas Neues in der europäischen Kunst.
Auf einem Bild steht «Je suis le plus important»: Ich bin der oder auch das Wichtigste. Anderswo steht «Ben doute de tout»: Ben zweifelt an allem.
Widersprüche definieren den Künstler Ben Vautier. Hinzu kommt Vautiers Auffassung von Politik, mit der er sich als Künstler seit Jahrzehnten sehr eingehend beschäftigt: Sein Ideal ist eine Existenz, in der sich jeder Mensch «überall auf der Welt fähig und bei sich selbst fühlen kann».
In seiner politischen Analyse klammert sich Vautier stur an eine enge Definition eines heutzutage überholt wirkenden Ethnisme. Hier wird Ethnisme als eine Gesellschaftstheorie verstanden, welche die Sprache als wichtigstes Identitätsmerkmal des Menschen definiert.
Ben Vautier will grösseren Sprachgruppen eigene Nation geben
Jede grössere Sprachgruppe, so die Idee, habe ein Recht auf eine eigene Nation, also auf die Möglichkeit, die Gemeinschaft in einem politischen Körper gleicher Sprache zu organisieren.
Damit sind alle Versuche der Vereinheitlichung in den Worten Vautiers zwangsläufig «imperialistisch». Ein zentralistisches Frankreich, das Minderheitensprachen wie das Okzitanische nicht als gleichwertige Sprachen Frankreichs anerkennt, ist für Vautier genauso «imperialistisch gegen seine Sprachminderheiten» wie eine von Deutschschweizern dominierte Schweiz.
Menschliche Zugehörigkeit basiert für Vautier nicht auf Vereinheitlichung, sondern auf dem Gegenteil, auf Unterschiedlichkeit, auf Vielfalt. Seine wichtigste politische Prämisse lautet daher: «Gleichheit der Rassen und der Völker in ihrem Recht auf Verschiedenartigkeit.»
Ben Vautier an der Weltausstellung 1992 in Sevilla
Ein Ideal, nach dem Vautier auch in der Schweiz immer wieder sucht. Im Juni 1992, an der Weltausstellung in Sevilla, provoziert Ben Vautier mit einer mittlerweile berühmt gewordenen Aussage: «La Suisse n’existe pas», steht da auf einem Bild von ihm.
Man könnte diesen Satz eigentlich auch als Kompliment verstehen: Eine einheitliche Schweiz gibt es nicht, die Schweiz ist vielfältig, jeder trägt eine andere Schweiz mit sich herum.
Doch rechtskonservative Kreise fühlen sich persönlich angegriffen. Beim Bundesrat gehen zahlreiche Anfragen und Interpellationen ein. Es sei «unglaublich, dass unser Land auf eine dermassen erniedrigende Art und Weise der Weltöffentlichkeit präsentiert wird», beklagen sich etwa die Schweizer Demokraten.
Die SVP wiederum verlangt vom Bundesrat ein zügiges Einschreiten: «Ist der Bundesrat bereit, unverzüglich Sofortmassnahmen in die Wege zu leiten, um den Schweiz-Pavillon so umzugestalten, dass der Weltöffentlichkeit ein der Wirklichkeit besser entsprechendes Bild über die pluralistische Schweiz vermittelt wird?»
Ausgerechnet! Die SVP versucht sich in einer pluralistischen Schweizdeutung. Es ist die Partei, die nach ihren Abstimmungssiegen in der Deutschschweiz jeweils lächelnd auf die Romandie hinunterblicken wird und die Romands wahlweise als «Griechen der Schweiz» – also als «faule» Schweizerinnen und Schweizer – oder als Einwohner mit «einem schwächeren Bewusstsein für die Schweiz» verunglimpfen wird.
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«Sprechen wir über Europa»
Im Rahmen dieser Serie gibt Felix Brun, Journalist und wissenschaftliche Mitarbeiter bei der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz, Abschnitte aus seinem Buch «Sprechen wir über Europa» preis. Dieses behandelt zehn Reden und Texte von bedeutenden Schweizer Persönlichkeiten, die die Überlegungen zum Verhältnis der Schweiz zu Europa wiederspiegeln.