EVP-Grossrätin Simone Leuenberger: Dazugehören – ein Menschenrecht
Die Schweiz schliesse 1,7 Millionen Menschen mit Behinderung vom gesellschaftlichen Leben aus. Das müsse sich ändern, erklärt Simone Leuenberger im Gastbeitrag.
Das Wichtigste in Kürze
- Mit der «Inklusions-Initiative» fordern Behinderte, was für andere selbstverständlich ist.
- Im Gastbeitrag erklärt Simone Leuenberger die Gründe zur Lancierung der Volksinitiative.
- Gleichstellung und Teilhabe müssten in der Bundesverfassung verankert werden.
Ich ging in die Dorfschule, habe eine Ausbildung gemacht, bin erwerbstätig, wohne in einer eigenen Wohnung und verbringe die Freizeit mit Freunden und Familie. Nichts Aussergewöhnliches – oder? Für uns Menschen mit einer Behinderung leider schon.
Leben in der Parallelgesellschaft…
Eine persönliche Frage: Wie viele Menschen mit Behinderung kennen Sie? – In der Schweiz lebt jede fünfte Person mit einer Behinderung. Im Alltag begegnen wir Menschen mit Behinderung aber kaum. Sie fehlen in der Schule, in der Ausbildung, in der Arbeitswelt. Wir treffen sie selten bis nie auf dem Sportplatz oder im Konzert. Wenn wir auf Menschen mit Behinderung stossen, wissen wir nicht so recht, wie wir uns verhalten sollen. Warum?
Die Schweiz hat ein Parallelsystem für Menschen mit Behinderung aufgebaut und lässt sich dieses auch einiges kosten. Es gibt spezielle Ausbildungs-, Arbeits- und Wohnorte, besondere Freizeit- und Ferienangebote. Menschen mit Behinderung sind unter sich, ob sie das wollen oder nicht. Dadurch sind sie ausgeschlossen vom gesellschaftlichen Leben.
…oder mit täglichen Hindernissen…
Mit meinem Lebenslauf gehöre ich zu den privilegierten Menschen mit Behinderung. Im Alltag stosse allerdings auch ich täglich auf Hindernisse, die mir das Leben in der Gesellschaft erschweren oder gar verunmöglichen. Beispiele gefällig? Will ich auf den Zug, geht das nur an bestimmten Bahnhöfen und auf Voranmeldung. Spontanes Reisen kenne ich nicht. Das Feierabendbier lasse ich lieber aus, denn ein rollstuhlgängiges WC gibt es selten in nützlicher Nähe. Konzerttickets lösen ist eine Meisterleistung. Wenn ich Glück habe, finde ich eine Telefonnummer und hänge dann in der Warteschlaufe. Nachbarn, Freunde oder Familie besuchen? Fehlanzeige. Die meisten Wohnungen sind nur über Stufen erreichbar.
Doch Menschen mit Behinderung stossen in der Schweiz noch auf ganz andere Barrieren. Viele Menschen mit Behinderung dürfen nicht wählen und abstimmen, werden immer noch zwangssterilisiert und dürfen nicht selbst entscheiden, wo und mit wem sie wohnen wollen. Würden Sie sich das gefallen lassen?
…lassen wir uns nicht länger gefallen!
Wir lassen uns diesen Ausschluss aus der Gesellschaft nicht länger gefallen. Wir fordern eine inklusive Gesellschaft – eine Gesellschaft für alle. Deshalb lancieren wir heute die «Inklusions-Initiative» mit dem Start der Unterschriftensammlung: Sie wird unterstützt von einer breiten Trägerschaft, darunter AGILE.CH und Inclusion Handicap.
Wir Menschen mit Behinderung lassen uns nicht länger behindern. Mit unserer Teilhabe wollen wir diese Gesellschaft bereichern. Das geht nur, wenn wir dieselben Rechte haben wie Menschen ohne Behinderung. Die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung muss nun endlich in der Bundesverfassung verankert werden.
Engagieren wir uns gemeinsam für eine Schweiz, zu der alle dazugehören. Mein nächster Schritt: Ich unterzeichne die «Inklusions-Initiative» – und Sie?
Zur Autorin: Simone Leuenberger lebt mit einer Behinderung, ist EVP-Grossrätin des Kantons Bern, Gymnasiallehrerin und Behindertenrechtlerin. Sie kandidiert im Herbst für den Nationalrat.