Frontex-Referendum: «Kein Schengen ist auch keine Lösung»
Bei der Abstimmung geht es um das Schweizer Verhältnis zu Europa und dem Schengen-Recht, darum sagt Sanija Ameti (Operation Libero) Ja zur Schengen-Vorlage.
Das Wichtigste in Kürze
- Am 15. Mai stimmen wir über das sogenannte Frontex-Referendum ab.
- Doch für Sanija Ameti geht es nicht in erster Linie um Frontex, sondern um Schengen.
- Daher wirbt die Co-Präsidentin der Operation Libero für ein Ja an der Urne.
Zugleich Geflüchtete, Liberale, Schweizerin und Europäerin zu sein, bedeutet, ständig zerrissen zu sein. Es bedeutet, ständig abzuwägen. Es bedeutet, ständig mit sich selbst zu streiten, bis sich die überzeugendsten Argumente herauskristallisieren. Und so ist es auch in dieser Schengen-Abstimmung vom 15. Mai.
Im Kern entmenschlichend
Als Geflüchtete und Liberale verabscheue ich das jetzige Frontex. Das jetzige Frontex ist, was passiert, wenn staatliche Macht wächst, ohne, dass die Möglichkeiten, diese staatliche Macht zu kontrollieren, mitwachsen: der Alptraum der Liberalen. Die Alternative zu Frontex aber sind in der heutigen Realität autoritäre Regierungen oder Korpskommandanten, die das Personal von Hilfswerken verhaften und Flüchtende systematisch ertrinken lassen.
Die Frage ist also, welche Alternative der Schweiz erlaubt, eher Einfluss zu nehmen und Menschenrechtsverletzungen besser zu kontrollieren. Die letztere wird es nicht sein. Und deshalb wäre es trotz der Widerwärtigkeit, die mich und viele Andere bei diesem Thema innerlich zerreisst, ein verheerender Trugschluss, Nein zu stimmen. Aus folgenden Gründen:
Gelebte Doppelmoral
In dieser Abstimmung geht es entgegen dem Titel der Nein-Kampagne erst in zweiter Linie um Frontex. In erster Linie geht es um die Übernahme von Schengen-Recht. Es geht also um Europa; um unser Verhältnis zu Europa. Denn wie Grenzschutz funktioniert, wer Grenzschutz durchsetzt und wovor die Grenze überhaupt geschützt werden soll, das wird schon lange nicht mehr hier, bei uns, in Bundesbern und sonntags an der Urne entschieden. Es wird von den Schengen-Staaten gemeinsam entschieden.
Das Forum hat gewechselt, der Entscheid wird nun ein Stockwerk weiter oben gefällt und die Kernfrage dieser Abstimmung lautet nicht: Ist Frontex gut oder schlecht? (Diese Frage ist einfach zu beantworten: Frontex ist schlecht). Die Kernfrage lautet: wie regeln wir unser Verhältnis zu Europa so, dass wir möglichst viel mitbestimmen können, was uns auch mitbetrifft? Als Schweizerinnen und Europäerinnen müssen wir uns endlich bewusst sein, dass wir im vernetzten 21. Jahrhundert europäische Probleme nur gemeinsam mit gleichgesinnten Staaten lösen und wirkungsvoller handeln können, als in einem abgeschotteten Reduit.
Denn das ist der entscheidende Punkt, warum es moralisch fragwürdig ist, hier, in der Schweiz, im falschen Forum, «Nein» zu Frontex zu sagen. Die Folge davon wäre nicht ein Ende von Frontex und noch nicht einmal ein besseres Frontex. Es wäre ein Frontex ohne die Schweiz, aber ein Frontex, in dessen Windschatten die Schweizer Migrationsabwehr in Zukunft Trittbrettfahren würde. Die Schweiz würde weiterhin von Frontex «profitieren», ohne für Frontex Verantwortung zu übernehmen. Es wäre «Nutzen» von Frontex ohne Verantwortung für Frontex. Es wäre gelebte Doppelmoral.
Friss-oder-stirb-Modus
Die Schweiz wollte stets möglichst kein gemeinsames europäisches Forum, um gemeinsame Angelegenheiten zu entscheiden. Sie wollte stets möglichst für sich entscheiden. Keine gemeinsamen Parlamente, die gemeinsame Kompromisse aushämmern könnten, keine gemeinsamen Gerichte, die gemeinsame Konflikte beilegen könnten. Das Resultat dieser Weigerung, an jenem Forum auch richtig teilzunehmen, wo die Musik spielt, ist der Friss-oder-stirb-Modus, mit dem die Schweiz an Schengen angebunden ist. Die Schweiz kann nur noch übernehmen, was andere für sie bestimmt haben, ohne es zuvor wirklich mitgestaltet zu haben. Sie muss fressen, was andere ihr auftischen.
Will die Schweiz es nicht mit übernehmen, fliegt sie aus Schengen raus. Mit dieser - folgerichtigen - Argumentation haben die linken Parteien 2019 das Ja zur Übernahme der Schengen-Waffenrichtlinie begründet. Und das automatische Rausschlittern aus Schengen würde wie 2019 auch jetzt passieren, wenn die Schweiz diese Schengen-Vorlage nicht übernimmt.
Anders als 2019 aber wollen die Politstrateg*innen der SP ein Nein zu Schengen am 15. Mai als innenpolitisches Pfand einsetzen: Das Parlament soll damit unter Druck gesetzt werden und die Kontingente für Resettlement-Flüchtlinge erhöhen, welche das Parlament zuvor - unverständlicherweise - abgelehnt hat. Dann wird die SP der Erhöhung des Beitrags an Frontex zustimmen, in der Illusion, den Rauswurf aus Schengen in letzter Sekunde doch noch verhindern zu können.
Dieses Hochrisikospiel einzugehen, um am Ende dennoch Ja zu Frontex zu sagen, ist heuchlerisch. Der Schengen-Rauswurf wird uns in eine weitere europapolitische Krise stürzen, aber das Problem Frontex würde es trotzdem nicht lösen. Frontex wird - schlussendlich mit dem Segen der SP - weiter bestehen. Und angesichts der jetzigen Eskalation in der Ukraine wird Frontex auch ohne die Schweiz ausgebaut werden. Das eigentliche Problem ist, dass die Schweiz nicht mitgestalten kann, was sie mit betrifft. Das ist das Problem, das wir endlich lösen sollten.
Endlich Europapolitik machen
Dieses Problem ist sperrig und technisch und nur mit schwierigen Kompromissen lösbar. Es lässt sich nicht in saftige Kampagnen giessen, wie die Forderung «no Frontex». Und viele Leute interessieren sich schlicht nicht dafür. Die Schweizer Referendumsdemokratie ist viel erlebbarer als die europäische Kompromissmaschine. Sie gibt einem viel eher das Gefühl, eine Stimme zu haben, auch wenn dieses Gefühl zunehmend nur noch Kulisse ist. Wenn wir unsere Stimme zurück haben wollen, dann müssen wir unseren Platz in Europa finden, dann müssen wir endlich Europapolitik machen, so sperrig und trocken sie ist.
Das Frontex-Referendum zeigt auf, wie das Desinteresse an Europa nicht nur ein Problem der populistischen Rechten ist, sondern auch der politischen Linken. Nur ein Ja am 15. Mai - so widerwärtig es sich anfühlt - ermöglicht uns, gemeinsam mit den anderen Schengen-Staaten Frontex mitzukontrollieren, zu verändern oder sogar abzuschaffen und ein besseres Europa, eines ohne dunkle Unterseite, bauen zu können. Alles andere wäre Realitätsverweigerung in Blochers Reduit.
Zur Autorin: Sanija Ameti ist Co-Präsidentin der Operation Libero und Mitglied der Parteileitung GLP Zürich.