Josef Lang: Ständemehr ist kein Schutz, sondern eine Gefahr
Die gestrige KVI-Abstimmung scheiterte am Ständemehr. Nun wird hitzig über die Abschaffung des Ständemehrs diskutiert. Ein Gastbeitrag dazu von Josef Lang.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Konzernverantwortungsinitiative ist gestern am Ständemehr gescheitert.
- Josef Lang, Historiker und Alt-Grünen-Nationalrat, stellt das System infrage.
- Das Ständemehr sei kein Schutz, sondern eine Gefahr für die sprachliche Minderheit.
Was ist gestern genau passiert? Ein Volksentscheid, der zustande gekommen ist dank eines Ja-Anteils von 63 Prozent in der Romandie und gegen eine Nein-Mehrheit in der Deutschschweiz, wird durch das Ständemehr ausgehebelt.
In anderen Worten: Die sprachliche Minderheit kommt selbst dann zu kurz, wenn sie gesamtschweizerisch gewinnt. Das Ständemehr ist kein Schutz, sondern eine Gefahr für eine wichtige Minderheit in unserem Land.
Romandie wird wiederholt von Ständemehr überstimmt
Diese Desavouierung der Sprachminderheit kombiniert sich mit der Ausgrenzung einer anderen Minderheit: der in der Schweiz arbeitenden, wohnenden und steuernden Menschen ohne Bürgerrecht.
1993 stimmten 53 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer für die erleichterte Einbürgerung der jungen Ausländerinnen und Ausländer. Das eidgenössische Ja kam zustande dank einer Zweidrittelmehrheit in der Romandie. Aber die Ausweitung der Demokratie scheiterte am Ständemehr.
2013 stimmten 54 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer für einen frauenfreundlichen Familienartikel. Die Vorlage setzte sich durch dank eines 70-prozentigen Ja-Anteils der Französischsprachigen. Aber die Mehrheit der Kantone verhinderte den Fortschritt. Das Ständemehr hat mit «kleinen» oder «grossen» Kantonen nichts zu tun.
Schliesslich wurden gestern wie schon 2013 und 1994 auch die kleinen Ja-Kantone Jura, Neuenburg und Basel-Stadt durch das Ständemehr desavouiert. Dazu kommt, dass der besondere Schutz der katholisch-konservativen Kantone spätestens seit der gestrigen Auflösung der CVP überholt ist.
Schon 1874 wurde das Ständemehr infrage gestellt
Wie überholt das Ständemehr ist, zeigt auch ein Blick zurück in die Geschichte. Im Rahmen der Debatte von National- und Ständerat über die neue Bundesverfassung von 1874, der damals fortschrittlichsten auf der Welt, wurde das Ständemehr praktisch und grundsätzlich infrage gestellt.
Beim neu eingeführten Referendumsrecht wurde auf das Ständemehr verzichtet. Für den Verzicht auf das Kantonsvotum waren die Deutschschweizer Freisinnigen, dagegen die Konservativen und – Ironie der Geschichte – die französischsprachigen «Radicaux».
Dabei betonten die Befürworter des Ständemehrs, ob Gesetz oder Verfassung mache keinen Unterschied. Ähnlich, aber im gegenteiligen Sinne, äusserten sich Deutschschweizer Freisinnige.
So sagte der Winterthurer Demokrat Gottlieb Ziegler Anfang 1872: «Es ist aber zu bemerken, dass der moderne Staat auf ganz anderen Grundlagen beruht als der alte Schweizerbund, und er sich von den historischen Traditionen desselben abgelöst hat. Nicht auf diese können wir abstellen, sondern auf die Kraft, die in jedem einzelnen ruht.»
Eine Minderheit wird ausgebremst
Das ist die Grundsatzfrage, vor der wir 148 Jahre später immer noch stehen: Baut unsere Demokratie auf dem mündigen Individuum oder baut sie zusätzlich auf althergebrachten Organismen. Deshalb sind nicht nur Linke, sondern auch echte Liberale gegen das Ständemehr.
Dasselbe gilt für jene Konservative, die es unfair finden, dass eine Sprachminderheit ausgebremst wird, wenn sie sich gesamtschweizerisch durchsetzt.