Vania Alleva (Unia) über den 1. Mai und die Corona-Lage
Die Covid-Pandemie ist keine «soziale Gleichmacherin». Darum braucht es jetzt einen Plan für mehr Gerechtigkeit, fordert Unia-Chefin Vania Alleva zum 1. Mai.
Das Wichtigste in Kürze
- Börsen boomen und Kapitalgewinne explodieren, doch breite Schichten drohen zu verarmen.
- Darum braucht es jetzt einen Plan für soziale Gerechtigkeit. Auch in der Schweiz.
- Ein Gastbeitrag zum 1. Mai von Unia-Präsidentin Vania Alleva.
Sozial schlechter gestellte Menschen haben ein höheres Infektions- und Sterberisiko und erleiden wirtschaftlich umso grössere Einbussen, je weniger Einkommen sie haben. Das zeigt sich in Tausenden von Beratungsgesprächen in unseren Sekretariaten, und dies belegen inzwischen mehrere wissenschaftliche Studien auch für die Schweiz.
Besonders hart ist die Lage für jene mit einem Einkommen unter 4'000 Franken: Sie haben im Schnitt einen Fünftel ihres Einkommens eingebüsst. Nicht weniger als 27% der Menschen in dieser Einkommenskategorie mussten Kurzarbeitsgeld beziehen, 8% wurden sogar arbeitslos, was im Schnitt zu einer Halbierung Ihrer Einkommen führte. Ihre Ersparnisse sind deutlich gesunken, jede und jeder Neunte musste sich verschulden, um überleben zu können.
Corona-Krise verschärft Ungleichheit in der Schweiz
Gesundheitsrisiken und wirtschaftliche Einbussen führen bei sozial Schwächeren auch zu grösseren psychischen Belastungen. Je länger die Krise dauert, umso sozial schlechter geht es ihnen. Bereits in der zweiten Welle letzten Herbst gaben doppelt so viele Menschen mit einem Haushaltseinkommen unter 4'000 Franken an, es gehe ihnen «schlecht» oder «sehr schlecht», als in den Haushalten mit 6'000 oder mehr Franken Einkommen.
Angesichts der weiter unsicheren Zukunftsaussichten dürfte sich dieser Missstand weiter verschlechtert haben: allein in Gastgewerbe und Hotellerie sind zehntausende Arbeitsplätze akut gefährdet, und jeder 5. Betrieb rechnet damit, die nächsten Monate nicht zu überleben.
Aber auch Arbeitnehmende in vermeintlich Covid-sicheren Jobs in sogenannt essenziellen Berufen leiden unter besonderen Belastungen. Als die Pandemie im Frühling vergangenen Jahres einen ersten Höhepunkt erreichte und sich die Intensivstationen füllten, leisteten die Beschäftigten in der Pflege, im Verkauf und der Logistik ohne Murren Überstunden, damit unser Leben weitergehen konnte.
Dafür ernteten sie viel Applaus. Applaus und sonst – mit Ausnahme einiger mickriger Prämien im Gesundheitswesen und im Verkauf: nichts. Auch diese vermeintlichen «Held*innen» der ersten Stunde sind Corona-Opfer, über die Arbeitgeber und Behörden lieber nicht reden wollen.
DPD – Ausbeutung statt Wertschätzung
Exemplarisch für diese Situation steht DPD (Schweiz) AG. Die Fahrer*innen des französischen Logistik-Konzerns leisten in der Pandemie Ausserordentliches. Sie sind oft ein letzter Kontakt zur Aussenwelt für Menschen in Isolation und nehmen dafür erhebliche Ansteckungsrisiken in Kauf.
Von den DPD-Kund*innen erfahren sie dafür auch entsprechende Wertschätzung. Nicht aber von ihrem Arbeitgeber. Hunderte von Fahrer*innen sowie Angestellte in Büros und Depots haben in den letzten Monaten mit unseren Sekretär*innen gesprochen.
Sie berichteten ihnen von 14 Stunden Tagen, von Tiefstlöhnen um 3'600 oder 3'800 Franken, von unbezahlten Überstunden, von Stress und Ausbeutung. Getrieben von den Vorgaben des DPD Algorithmus überbringen die Frauen und Männer im Minutentakt Pakete. Zeit für Pausen gibt es nicht. Jeder Schritt wird erfasst, nur die Arbeitszeit nicht. Fehler führen zu Lohnabzügen.
Hinter diesen Missständen steht ein beispielloses System von 80 Subunternehmen, welche im Auftrag von DPE vorwiegend migrantischer Arbeitskräfte ausbeuten. Die DPD kontrolliert die Verteilung der Pakete innerhalb der Schweiz, ohne dass DPD einen Lieferwagen besitzt oder eine/n einzige/n Fahrer*in angestellt hat.
Für die Paketzustellung sind etwa 80 Subunternehmen zuständig, welche ihrerseits ca. 800 Fahrer*innen beschäftigen. Die meisten von ihnen arbeiten ausschliesslich für DPD; viele wurden wohl überhaupt erst gegründet, um für DPD auszuliefern. Kurz: Die Missachtung des Arbeitsrechts hat System.
Verkauf: Ab in den Keller
Auch im Verkauf herrschen Tieflöhne vor. Extrem flexibilisierte Arbeitszeiten, Kleinstpensen und Arbeit auf Abruf nehmen überhand. Die Pandemie hat die Situation weiter verschärft. Wer trotz «Lockdown» weiterarbeiten konnte, musste oft weitere Verschlechterungen in Kauf nehmen.
Wie wir aus Berichten beispielsweise von Bekleidungs-Verkäuferinnen wissen, wurden viele zu Zuarbeitenden des Onlinehandels degradiert: Verpackungsarbeiten im Keller sind dort die Regel, ohne Schutzmassahmen und Tageslicht auf engstem Raum, in Schichten ohne Pausen, unter ständigem Druck. Oft verbunden mit der Erwartung, dass es auch nach dem «Lockdown» im gleichen Stil weiter gehen solle.
Der Druck, solche Verschlechterungen einfach zu akzeptieren, ist immens. Schliesslich geht es denen, die in Kurzarbeit stehen, ja noch schlechter: Bei einem Bruttolohn von 4'000 Franken bleiben ihnen bloss 2'500 Franken netto im Portemonnaie. Das reicht einfach nirgends hin.
Alters- und Pflegeheime
Druck und Stress prägen die Arbeit ebenso in den Alters- und Pflegeheimen; auch hier hat die Pandemie die Lage zusätzlich verschärft. Ausfälle wegen Krankheit oder Quarantäne erhöhen den Personalmangel – und gleichzeitig erfordern die Schutzmassnahmen mehr Zeit und Geduld. Hinzu kommt die Betreuungsarbeit, die die Pflegenden zusätzlich übernehmen mussten, da die Angehörigen keinen Zutritt mehr zu den Heimen hatten.
Voller Lohnersatz, mehr GAV und Unternehmensbesteuerung
Die Covid-Pandemie hat sich bisher nicht als grosse Gleichmacherin entwickelt, sondern im Gegenteil als soziale Spalterin. Politik und Sozialpartner müssen dem nun entschieden entgegenwirken.
Erstens braucht es mehr sozialen Ausgleich. Die Unia fordert seit Beginn der Pandemie eine Aufstockung des Lohnersatzes bei Kurzarbeit auf 100% für Löhne bis 5'000 Franken netto. Das Parlament hat im Dezember wenigstens einen kleinen Schritt in diese Richtung getan. Aber voller Lohnersatz nur bis 3'470 Franken brutto und bloss 80% ab 4'340 Franken sind einfach zu wenig.
Zweitens braucht es überall – und besonders in den kaum regulierten «essenziellen» Berufen des Dienstleistungssektors – allgemeinverbindliche Branchen-GAV, mit anständigen Mindestlöhnen und erträglichen Arbeitsbedingungen. Behörden und Arbeitgeber müssen sich endlich in diese Richtung bewegen und ihre immer weiter gehenden Deregulierungspläne etwa im Arbeitsgesetz oder bei den Ladenöffnungszeiten begraben.
Es ist alles nur eine Frage politischen Willens. Von guten Arbeitsbedingungen profitieren letztlich auch die anständigen Unternehmen. Und Geld für die Finanzierung des dringend nötigen sozialen Ausgleichs wäre in der Schweiz mehr als genug vorhanden.
Wir verlangen: für einmal soll sich unser Land nicht als Krisenprofiteurin im Interesse einiger weniger Superreicher profilieren. Vielmehr muss sich die Schweiz in den laufenden Debatten für eine globale Mindeststeuer auf Konzerngewinne auf die Seite der sozialen Gerechtigkeit stellen und selbst einen mutigen Schritt vorausgehen.