Vergewaltigung! Warum niemand diesen Weg allein gehen sollte
Kolumnistin Chris Oeuvray schildert eindrücklich, wie sie nach einer Vergewaltigung einer Freundin beistand – und was wir alle tun können!
Das Wichtigste in Kürze
- Es ist wichtig, auf häusliche Gewalt aufmerksam zu machen, sagt Kolumnistin Chris Oeuvray.
- Und zwar nicht in einer reisserischen Art, sondern einfühlsam und konstruktiv.
Es war morgens um neun Uhr, als meine Freundin vor meiner Tür stand. Ihre Augen waren leer, ihr Gesicht gezeichnet, ihre Schultern hingen schlaff. Und ihre Worte kamen nur stockend heraus: «Ich bin gerade vergewaltigt worden.»
Die Wucht dieser Worte liess mich erstarren. Doch ich wusste, dass sie jetzt etwas anderes brauchte als meine Sprachlosigkeit. «Wie ist dein Plan?», fragte ich behutsam.
Sie antwortete leise: «Ich will ihn anzeigen. Aber ich schaffe es nicht allein. Begleitest du mich?»
«Natürlich bin ich bei dir», sagte ich ohne Zögern. So machten wir uns gemeinsam auf den Weg zur Polizei.
«Ein Raum voller Fremder»
Am Empfang der Polizeiwache war es voll, und meine Freundin wirkte nervös.
Als der Polizist lautstark fragte: «Worum geht es?», merkte ich, wie sie vor Scham erstarren wollte.
Bevor sie etwas sagen konnte, trat ich entschlossen einen Schritt nach vorne und blickte ihm direkt in die Augen: «Das ist vertraulich», sagte ich ruhig, aber bestimmt. Der Polizist sah mich an, begriff seinen Fehler und führte uns sofort diskret in einen geschützten Bereich.
Kurz darauf kam eine Polizistin für die Einvernahme.
Meine Freundin flüsterte mir zu: «Ich kenne diese Polizistin persönlich.» Ich spürte ihre Verzweiflung. Wieder übernahm ich: «Entschuldigen Sie, aber ich glaube, das ist keine geeignete Konstellation.»
Die Polizistin verstand sofort und organisierte umgehend eine Kollegin, die sich um alles kümmerte.
Während der Anzeige sass ich neben meiner Freundin, hielt ihre Hand und hörte ihr zu. Sie weinte oft. Brauchte immer wieder eine Pause.
Die Nacht hatte Spuren hinterlassen. Sie war erschöpft. Tapfer richtete sie sich immer wieder auf und sprach weiter. Ich bewunderte sie und war einfach für sie da – still, präsent und fest an ihrer Seite.
Ein Moment der Entspannung
Nach der Einvernahme, die Stunden dauerte, fuhren wir zum Schadenplatz. Unterwegs merkten wir trotz der permanenten Spannung, dass wir noch nichts gegessen hatten.
Wir hielten an einer Tankstelle und kauften frische Schokoladengipfel. Als wir im Auto sassen, bissen wir in das warme, süsse Gebäck. Es war absurd, wie etwas so Einfaches uns beiden in diesem Moment so guttat.
Eine lange Nacht
Der nächste Halt war die Klinik. Die ältere Dame am Empfang begrüsste uns diskret und mit einer Wärme, die ich nicht erwartet hatte. Sie sorgte dafür, dass wir die nötige Privatsphäre bekamen.
Doch der Notfallbereich war stark ausgelastet. Die Ärztin wurde mehrmals zu dringlicheren Fällen gerufen, wodurch die Untersuchung der traumatisierten Freundin immer wieder unterbrochen wurde.
Dies führte dazu, dass sich der gesamte Prozess über mehrere Stunden bis Mitternacht erstreckte.
Um 21 Uhr war ich selbst am Ende meiner Kräfte. So schwer es mir fiel, liess ich meine Freundin zurück. Wissend, dass sie in guten Händen war. Ihre Kinder holten sie später ab und brachten sie sicher nach Hause.
Reaktionen des Umfelds
In den folgenden Tagen blieben wir in engem Kontakt. Was mich besonders berührte, waren die unterschiedlichen Reaktionen ihres Umfelds.
Manche bewunderten ihren Mut und sagten: «Das hast du grossartig gemacht.» Andere wiederum fragten: «Bringt das überhaupt etwas? Er wird eh nicht verurteilt.»
Doch für mich war klar: Es ging nicht darum, was andere darüber denken. Es ging darum, für sie da zu sein. Ohne zu urteilen, ohne zu hinterfragen. Einfach nur da.
Für sie war nicht wichtig, dass der mutmassliche Täter verurteilt oder bestraft wird. Für sich war vor allem wichtig, dass sie eine klare Grenze gesetzt hatte – und für sich und ihr Recht auf Unversehrtheit eingestanden war.
Solidarität als Schlüssel
Vergewaltigung ist nach wie vor eine brutale Realität, die uns immer wieder vor Augen führt, wie gefährdet Menschen überall sein können – unabhängig von Kultur, Ort oder den vermeintlich sicheren eigenen vier Wänden. Das darf nicht sein!
Ein «Nein» ist ein Nein. Was gibt es daran nicht zu verstehen? Es liegt an uns allen, hinzuschauen und nicht wegzusehen.
Wie der Gerichtsfall in Frankreich von Dominique Pelicot so eindringlich gezeigt hat: Opfer haben das Recht, sich zu zeigen. Und zwar ohne Scham oder die absurde Schuldzuweisung, sie seien verantwortlich für das, was ihnen widerfahren ist.
Die Situation hat mich Folgendes gelehrt: Der Tag war hart. Für uns beide.
«Du bist nicht allein»
Trotzdem: Solidarität ist das, was Menschen nach solchen Erlebnissen brauchen – keine Belehrungen, keine Zweifel. Jede von uns kann das tun.
Wir können als Mensch, als Freundin, als Frau, auch als Mann füreinander da sein und zeigen: Du bist nicht allein.
Ich wünsche mir, dass jede Person, die so etwas erlebt, bedingungslos unterstützt wird.
Wenn wir der sexuellen Gewalt gemeinsam die Stirn bieten, indem wir denen zuhören und beistehen, die es am meisten brauchen, machen wir einen grossen Schritt hin zu einer besseren, stärkeren Gesellschaft.
Es gibt immer Hoffnung
Auch wenn diese Reise für meine Freundin schwierig war, hat sie unglaublichen Mut bewiesen. Sie war tapfer, obwohl die Herausforderung sie schier erdrückte.
Ihre Stärke war inspirierend und zeigte, wie wichtig es ist, in solchen Momenten nicht allein zu sein.
Wir alle können ein Licht in der Dunkelheit sein. Für uns selbst, für andere und für eine Welt, die Solidarität braucht. Denn genau das zählt.
Hinweis: Fortsetzung folgt in diesem Fall, die Gerichte brauchen Zeit.
Zur Autorin: Chris Oeuvray ist Expertin für Narzissmus, psychologische Beraterin und Autorin («Narzissmus – ohne mich», weitere Bücher auf ch-oeuvray.ch) aus Zug. Auf Nau.ch schreibt Oeuvray regelmässig Kolumnen.