Zürich: Neuer Google-Standort verstärkt Gentrifizierungswelle
Mitten im Zürcher Kreis 4 entsteht seit zwei Jahren ein neuer Google-Standort. Die Gentrifizierungswelle wird so noch mehr verstärkt. Stimmen dazu werden laut.
Das Wichtigste in Kürze
- Mitten im Zürcher Kreis 4 entsteht seit zwei Jahren ein neuer Google-Standort.
- Damit wird die Gentrifizierungswelle in der Region noch mehr verstärkt.
- Immer mehr Gebäude werden zu Business-Apartments oder Mikrowohnungen umgebaut.
Einst präsentierten sich Herrscher auf dem Balkon ihren Untergebenen. Von weit oben winkten sie herunter: Die Machtverhältnisse waren klar definiert. Auch heute kann ein Balkon viel darüber aussagen, wer in einer Wohnung lebt.
Von der Bestuhlung über die Begrünung bis hin zu gelegentlichen Besuchen. Es ist der Präsentierteller für die Öffentlichkeit – ob man will oder nicht.
Im Kreis 4 nahe des Stauffachers zeichnen die Balkone ein gleichförmiges Bild. An beinahe jeder Strassenecke wiederholt sich deren spartanische Einrichtung.
Der Tisch und die beiden Stühle gehören zum Inventar verschiedener Business-Apartments. Ein Anblick, der im Quartier zugenommen hat. Auch, weil Google an der Müllerstrasse 16/20 einen neuen Standort beziehen wird.
Das Netz der Swiss Prime Site
Seit Sommer 2021 ist bekannt, dass der Techkonzern neuer Mieter des ehemaligen Swisscom-Sitzes wird. Eigentümerin der Liegenschaft ist die Swiss Prime Site (SPS), eines der grössten Immobilienunternehmen der Schweiz.
Ihr Portfolio im Wert von 13,1 Milliarden Franken beinhaltet unter anderem den Prime-Tower und das Jelmoli-Haus in Zürich. Doch auch kleine Fische landen im Netz der SPS: So erwarb sie vor zwei Jahren ein Gebäude an der Müllerstrasse 57, wenige hundert Meter vom neuen Google-Standort entfernt.
Nach dessen Sanierung wird es seit vergangenem Februar an Nest Temporary AG vermietet; eine Firma, die schweizweit möblierte Apartments für Geschäftsleute und Tourist anbietet. 1373 Franken kosten sieben Übernachtungen in einem der insgesamt zehn Einzimmerwohnungen. Trotz dieser Preise seien die Wohnungen regelmässig gebucht worden, schreibt der Geschäftsleiter Philippe Aenishaenslin auf Anfrage.
Dass das Mietverhältnis der Liegenschaft damit zusammenhängt, Google-Mitarbeitenden in Zürich, sogenannten Zoogler, eine Bleibe in Gehdistanz zu ermöglichen, dementiert er: «Wir sind schon seit längerem mit SPS im Gespräch bezüglich dieser Liegenschaft. Dies hat keinen Zusammenhang.» Wie viel Geld Nest Temporary AG für das Haus an der Müllerstrasse 57 an das Immobilienunternehmen zahlen muss, will Aenishaenslin nicht verraten.
Das Geschäft mit den Business-Apartments scheint sich aber zu lohnen: Erst vor wenigen Monaten erweiterte das Unternehmen des SVP-Politikers aus Nidwalden sein Angebot mit einer frisch renovierten Immobilie an der Kanzleistrasse 217.
Ein «unerschlossener» Markt
Auch andere geben an, dass sich ihre Angebote mit der Nachfrage decken würden: «Die Apartments in Zürich sind grösstenteils voll ausgelastet», schreibt Glandon Apartments aus dem Luzernischen Meggen. Die Firma bietet an der St. Jakobstrasse 66 Wohnungen für Personen an, die mindestens einen Monat in Zürich bleiben wollen.
Zwischen 1650 und 3950 Franken kosten die Business-Apartments monatlich – je nachdem, wie viel Luxus erwünscht ist. Sechs Monate wohnen die Mieter im Durchschnitt laut der Medienverantwortlichen in den Apartments.
Langzeitvermietungen von möblierten Wohneinheiten seien in Zürich ein «unerschlossener» Markt, heisst es auch bei Blueground. Die griechische Firma, die auf der ganzen Welt möblierte Kleinwohnungen zur Miete für 30 Tage oder mehr anbietet, fasste Anfang 2022 auch in Zürich Fuss.
«Die hohe Dichte internationaler Unternehmen in der Schweiz führt zu einer grösseren Nachfrage nach möblierten Wohnungen in den Stadtzentren», so die Medienverantwortliche. Mittlerweile bietet Blueground eigenen Aussagen zufolge um die hundert Apartments in Zürich an – auch an Google-Mitarbeitende.
Die Wohnung an der Rebgasse 8 wird wohl für Zoogler, des neuen Standorts, besonders attraktiv sein. Sie liegt quasi neben dem Glaskomplex des Techriesen.
Ebenfalls in Sichtnähe befindet sich das Apartmenthaus von Numa Group an der Bäckerstrasse 9. Ähnlich wie Blueground hat sich das Unternehmen mit Sitz in Berlin erst vor Kurzem in Zürich angesiedelt: Die Liegenschaft unweit des Stauffachers wurde im Jahr 2021 von einer IT-Firma aus den USA erworben und anschliessend umgebaut. Seit April dieses Jahres vermietet die Betreiberin darin rund 150 Betten für Kurz-, aber auch Langzeitaufenthalter.
Apartments in Zürich nehmen zu
Auswertungen des Statistischen Amtes zeigen, dass in Zürich immer mehr Wohnungen als Apartments genutzt werden: Waren es bei der ersten Erhebung im Jahr 2016 noch 2700, kletterte die Zahl bis 2022 auf rund 4300; was 1,9 Prozent aller Wohnungen im Stadtgebiet entspricht.
In einigen Regionen waren es deutlich mehr: Über 20 Prozent der Wohnungen rund um die Hochschulen im Kreis 1 fallen in die Kategorie Apartments. Und auch im Quartier Werd, wo sich der neue Google-Standort befindet, waren vergangenes Jahr sieben Prozent aller Wohnungen möblierte Unterkünfte.
Dass die Ergebnisse bei der nächsten Auswertung im kommenden Herbst höher ausfallen könnten, wäre angesichts der neuen Player auf dem Markt wenig überraschend – sofern auch alle Hauseigentümer das Formular vollständig ausfüllen. Denn eine Meldepflicht für Business-Apartments gibt es in Zürich nicht. Die Zahlen werden laut dem Statistischen Amt jährlich im Rahmen der Leerwohnungszählung ermittelt. Stehen Wohnungen nicht leer, wird nach den Gründen gefragt, wobei hier eine Auskunft freiwillig ist.
Trotzdem seien die Zahlen vermutlich recht genau, erklärt Urs Rey vom Statistischen Amt: «Wir ergänzen den Algorithmus mit eigenen Recherchen.»
Als wissenschaftlicher Mitarbeiter begleitet Rey die Zählung seit mehreren Jahren. 2017 bemühte sich die Stadt, auch die Anzahl an Airbnbs in Zürich zu ermitteln. Damals kam sie auf rund 500 Wohnungen.
Wie viele es heute sind, kann Rey nicht sagen: «Viele publizierte Zahlen sind unscharf. Zudem gibt es grosse Überschneidungen mit dem übrigen Wohnungsmarkt, und auch ein Webscraping gibt keine homogenen Resultate.» Auch der Kanton habe seine Anstrengungen diesbezüglich wieder eingestellt.
Gemäss der Plattform Airdna, welche weltweit Daten zu Airbnbs sammelt, gibt es aktuell über 1600 Angebote in der Stadt Zürich – knapp 230 alleine im Kreis 4. Bei zwei Dritteln handelt es sich um ganze Wohneinheiten.
«Der Stadtrat hat das Geschäft verschleppt»
Dass es für Airbnbs und Business-Apartments keine Meldepflicht gibt, ist dem AL-Gemeinderat Mischa Schiwow ein Dorn im Auge. Ohne diese bleibt eine Regulierung schwierig.
Dass es in den letzten Jahren zu einer Konzentrierung auf die zentralen Stadtgebiete gekommen ist, ist aber auch ihm nicht entgangen: «Die Wohnungskrise wird durch die massive Zunahme an Business-Apartments verschärft, weil dadurch immer mehr normale Wohnungen verschwinden.» Dass ganze Häuser heute als Unterkünfte für Geschäftsleute aus dem Ausland genutzt werden, gilt es seiner Meinung nach zu unterbinden. Zumal die Bau- und Zonenordnung (BZO) der Stadt je nach Gebäude einen Wohnanteil von bis zu 100 Prozent vorschreibt.
Das Problem: Kommerziell bewirtschaftete Apartments werden heute diesem Wohnanteil angerechnet. Und das, obwohl das Stadtparlament bereits vor drei Jahren eine Änderung der BZO verabschiedet hat, die vorschreibt, dass Zweitwohnungen wie Business-Apartments und Airbnbs nicht an den Wohnanteil angerechnet werden dürfen.
Demnach wären Nutzungen wie jene an der Müllerstrasse 57 oder der Bäckerstrasse 9 nicht mehr möglich. Doch weil mehrere Anbieter – unter anderem auch die Nest Temporary AG – Rekurse eingereicht haben, ist die Änderung noch nicht rechtskräftig. So argumentiert zumindest das Hochbaudepartement Zürich.
Schiwow will das nicht auf sich sitzen lassen: «Der Stadtrat nutzt das laufende Rechtsmittelverfahren, um nicht vorwärts machen zu müssen.» Aus diesem Grund hat der AL-Politiker zusammen mit seinem Parteikollegen David Garcia Nuñez im Mai eine schriftliche Anfrage eingereicht.
Unter anderem wollen sie von den Verantwortlichen wissen, warum bei der Müllerstrasse 57 keine negative Vorwirkung in Form einer Bausperre gegriffen hat. «Der Beschluss wurde vom Parlament verabschiedet, daraufhin hätte der Stadtrat entsprechend handeln müssen – stattdessen hat er das Geschäft verschleppt», kritisiert Schiwow. Er geht davon aus, dass sich das Rechtsmittelverfahren noch ein bis zwei Jahre hinziehen wird und vielleicht sogar das Bundesgericht darüber entscheiden muss.
Und auch dann bleibt unklar, ob die Betreiber von Business-Apartments nicht auch eine Gesetzeslücke finden werden, um ihrem Ende zu entkommen. Auf die Frage hin, wie Glandon Apartments mit der geplanten Anpassung der BZO umgeht, schreibt die Medienverantwortliche: «Da wir unsere Apartments ab einem Mindestaufenthalt von einem Monat vermieten, sind wir davon grundsätzlich nicht betroffen.» Schiwow glaubt nicht daran, dass das stimmt. Aber: «Es wird immer diese Schlaumeier geben, die den Graubereich ausnutzen.»
Mikrowohnungen für Zoogler
Währenddessen wird nicht nur am Google-Gebäude, sondern auch rund um die Müllerstrasse 16/20 fleissig umgebaut. An der Hausnummer 8 in derselben Strasse lässt Urs Stocker, ein Nachkomme der Bäckerdynastie Stocker, gerade ein Wohnhaus kernsanieren. Aus den einstigen Drei- und Vierzimmerwohnungen werden Ein- und Zweizimmerwohnungen. «Das Ganze muss sich auch rechnen», so der Hauseigentümer gegenüber dem Recherchekollektiv WAV. Google-Mitarbeitende werden sich die frisch renovierten Mikrowohnungen wohl leisten können.
Eine Strasse weiter, mit Blick auf die gleichgeschalteten Balkone der Apartments von Numa, macht die Eigentümerschaft keinen Hehl daraus, für Zoogler besonders attraktiv zu sein: «Der neue Google-Standort ist praktisch direkt vor der Haustüre», schreibt Zaltana Properties AG auf ihrer Webseite.
Erst im Jahr 2022 hatte die Immobilienfirma des Verwaltungsratspräsidenten von Radio Energy, Patrick Vogt, die Liegenschaft an der Bäckerstrasse 10 erworben. 2024 sollen die Wohnungen zu 16 Einzimmerwohnungen, einer Zweizimmer- und einer Dreizimmerwohnung umgebaut werden.
Über die offenen Arme der Apartment-Betreiber und Immobilienfirmen müsste sich Google eigentlich freuen. Zumal der Konzern wie viele andere Grossunternehmen im IT-Bereich auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen ist. Doch das Unternehmen gilt nicht als besonders gesprächig, wenn es um konkrete Angelegenheiten geht.
Auch nach mehrmaligem Nachhaken beantwortet die Medienstelle weder die Frage danach, wie viele Angestellte künftig an der Müllerstrasse 16/20 arbeiten werden, noch jene dazu, ob Google sich auch um die Wohnmöglichkeiten ihrer Mitarbeitenden sorgt.
Hinsichtlich der Angebotsdichte im Stauffacher-Quartier wird uns ab nächstem Jahr sicher der eine oder andere Zoogler vom Balkon winken. Die Machtverhältnisse sind wohl auch heute noch klarer verteilt, als es einem lieb ist.
Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst bei Tsüri.ch erschienen. Isabel Brun ist (Klima-)Redaktorin beim Zürcher Stadtmagazin.