Zürich: Schillerndste WG verschwindet wegen Sanierung
Nach fast 30 Jahren saniert Helsana die Wohnung von Rock Battaglia im Quellenhof in Wollishofen ZH und damit unzählige Geschichten.
Das Wichtigste in Kürze
- In Wollishofen ZH wird der gesamte Quellenhof saniert.
- Allen Bewohnenden von etwa zwei Dutzend Wohnungen wurde per Ende März 2024 gekündigt.
- Darunter befindet sich auch das Zürcher Stadtoriginal Rock.
Rocks gesamte Wohnung ist verhangen mit Geschichten. Ein ausgestopfter Elchkopf wacht über dem Küchentisch, eine echte Tanksäule steht im Schlafzimmer – die Wohnung ist von unten bis oben voll mit Gegenständen, die an Personen erinnern, die Rocks Weg und seine vier Wände durchlaufen haben.
Da ist das schwarze Zimmer, das Rock mit dem Künstler H. R. Giger mit Schläuchen, Kanistern und Autofelgen ausgekleidet hat. In der Stube hängt ein übergrosses Foto vom Fotografen Terry Richardson, das er Rock als Dank schickte, nachdem er bei ihm wohnen durfte.
Das Wohnzimmer ist eine grosse, erhöhte Sitzecke, voller Kissen und Liegen. Man kann sich gut vorstellen, wie hier bis in die späten Abendstunden geraucht, gelacht und diskutiert wird.
Doch damit ist bald Schluss. Als im Jahre 2015 Helsana den Quellenhof aufkaufte, sorgte man sich bereits vor einem Umbau. Nun hat die Eigentümerin beschlossen, den gesamten Quellenhof zu sanieren.
Dazu gehört die Albisstrasse 8 und 10 sowie die Renggerstrasse 57. Die Baumassnahmen sind so gravierend, dass allen Bewohnenden der etwa zwei Dutzend Wohnungen per Ende März 2024 gekündigt wurde.
Der Rauswurf sitzt tief bei Mish Madish. Zusammen mit Rock und ihren beiden Katzen stellen sie eine der ausgefallensten WGs Zürichs dar. Mish ist Besitzerin der Showproduktionsfirma Datt'Style und künstlerische Leiterin bei Samigo Amusement – einem Restaurant, das bekannt für seine schillernden Veranstaltungen ist.
Die 6-Zimmer-Wohnung in Wollishofen ermöglicht es ihr, für ihre Shows Burlesque-Tänzerinnen, Performance-Künstler:innen und Dragqueens gratis oder für wenig Geld zu beherbergen. Seit zwei Jahren wohnt Mish mit Rock zusammen und sie ist es, die uns in die gemeinsame Wohnung einlädt. Von Rock habe sie gelernt, dass die Wohnungstür allen offensteht.
Rock ist ein Zürcher Stadtoriginal. Schwere Ringe zieren seine Hände, seine langen Haare sind zu zwei Zöpfen geflochten, und die Arme bedeckt mit Tattoos.
Er sieht aus wie eine Mischung von Rocker und Hipster erster Stunde. Rock fuhr als Velokurier durch Zürich, war Inhaber eines Piercing- und Tattoo-Studios und arbeitet als Requisiteur am Schauspielhaus.
Eine gute und eine schlechte Nachricht
Das Ende der WG kam in Gestalt zweier junger Vertreterinnen der Immobilienverwaltung Livit. Eine gute und eine schlechte Nachricht hätten sie zu überbringen, sagten die Frauen zu Mish und Rock, als sie im Frühling dieses Jahres an ihrer Wohnungstüre klingelten.
Die schlechte Nachricht sei, dass ihnen gekündigt werde. Doch man könne optimistisch bleiben: Livit helfe bei der Wohnungssuche. Das war die gute Nachricht.
Der Schock darüber, vor vollendeten Tatsachen gestellt zu werden, sitzt noch tief. Die Livit-Vertreterinnen seien geschult darin, Lösungen zu finden und Einsprachen zu verhindern – die Kündigung sollten die Bewohner:innen noch gleich auf der Türschwelle unterschreiben, erzählt Mish. Während die Vertreterinnen der Verwaltung im persönlichen Gespräch noch jegliche Unterstützung zusichern, sah die Realität später ganz anders aus.
Eine vergleichsweise lange Kündigungsfrist von einem Jahr wurde den Bewohnenden zwar gegeben. Doch die versprochene Unterstützung bei der Wohnungssuche hielt sich für Rock in Grenzen. Für Mish als Untermieterin hatte man erst recht keine Hilfe übrig.
«Wir waren auf uns selbst gestellt», erzählt Rock. Er habe gedroht, dass er die Wohnung nicht verlassen werde, solange ihm Livit nicht helfe, eine neue zu finden. «Ich habe schon früher Häuser besetzt, dann kann ich auch jetzt Häuser besetzen.»
Schleichende Entmietung
Der Quellenhof ist trist an diesem verregneten Freitagabend. Baugespanne stecken den kommenden Neubau aus. Auf den Gängen stehen Umzugskartons. Viele Familien sind bereits ausgezogen. Eine 81-Jährige, die ihr gesamtes Leben im Quellenhof gewohnt hat, wartet auf einen Platz im Altersheim.
Nach der Sanierung stehen 25 Wohnungen zur Verfügung. Die Helsana plant die Erstellung eines zusätzlichen Neubaus. Darin entstehen 17 kleinere Wohnungen sowie ein Garten, den die künftigen Mieterinnen und Mieter des Quellenhofs nutzen können. Zu welchem Mietzins die Wohnungen vermietet werden, werde laut Mediensprecher erst nach dem Umbau festgelegt.
Eine Kernsanierung sei notwendig, da nach Angaben der Helsana die Lebensdauer der 91-jährigen Siedlung überschritten sei. Fenster, Fassade, Bäder, Küchen sowie sämtliche Leitungen und die komplette Haustechnik seien überaltert und müssten saniert werden.
Auch sei der Energieverbrauch der Liegenschaft überdurchschnittlich hoch und mit Blick auf die ökologische Bilanz unhaltbar, schreibt der Mediensprecher der Helsana.
Wir treffen eine weitere Bewohnerin der Siedlung, die extrem frustriert ist. Für die Kernsanierung hat sie wenig Verständnis. «Es ist einfach nur schade, denn die Wohnungen sind wunderschön. Doch bei der Helsana geht es nur um Zahlen», sagt die Bewohnerin, die anonym bleiben will – zu gross sei der Druck der jetzigen Verwaltung.
Für ihre Rechte müsse sie ständig mit der Verwaltung kämpfen. «Die grossen Verwaltungen machen so wenig wie möglich. Auch hier will man die Kosten tief halten und lässt den Quellenhof verlottern», meint sie. Seit der Entmietung, wie sie es nennt, befindet sie sich wie in einer Schockstarre. Die erfolglose Wohnungssuche bringt sie an den Rand der Verzweiflung.
Chance für Neues
Rock dagegen hat inzwischen eine neue Wohnung in Wollishofen gefunden. Sie ist halb so gross und teurer als die jetzige. Die tausend Figuren und unzähligen Memorabilien verschenkt oder entsorgt der Sammler. Denn in der neuen Wohnung hat nur einen Bruchteil davon Platz.
Mish steht im Wohnzimmer und schaut sich um. Sie schaltet die Jukebox ein. Wie es für sie weitergeht, ist unklar. Besonders schmerzlich sei, dass sie keinen Platz mehr habe, um ihre Performance-Künstler:innen unterzubringen. Dass all das verschwindet, kann sie noch nicht richtig fassen. «Wir hatten so viele spannende Gäste. Stücke wurden geschrieben, Lieder komponiert und Babys gezeugt», erzählt Mish.
Alles, was in den 90er-Jahren Rang und Namen hatte, habe sich an der Albisstrasse die Hand geschüttelt. Musikgrössen hätten sich nach ihren Konzerten im Hallenstadion bei Rock Zuhause getroffen.
«Ich habe manch einen bei mir Zuhause empfangen», pflichtet Rock bei. Es sei ein Stück Geschichte, das verschwindet. Fast 30 Jahre hat er in dieser Wohnung gewohnt. Rock könnte stundenlang erzählen. «Die Geschichten, die sind wichtig», sagt Rock beim Verabschieden.
Vieles davon gehe verloren, doch Veränderungen geben auch Platz für Neues.
Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst bei Tsüri.ch erschienen. Autorin Noëmi Laux ist Redaktorin beim Zürcher Stadtmagazin.