Die Schrecken des Krieges: «Im Westen nichts Neues»
Die Verfilmung des Literaturklassikers schildert die Gräuel des Ersten Weltkriegs aus der Sicht eines jungen Soldaten. Deutschlands Kandidat im Rennen um den Auslands-Oscar kommt nun in die Kinos.
Das Wichtigste in Kürze
- Wenn in Edward Bergers Kriegsdrama «Im Westen nichts Neues» die ersten Granaten einschlagen und die ersten Schüsse fallen, ist es fast unmöglich, nicht an die aktuelle Weltlage zu denken.
Als der deutsche Regisseur Anfang 2021 in Tschechien mit den Dreharbeiten zu seinem von Netflix produzierten Epos begann, das am 29. September in die Kinos kommt, herrschte Covid-Lockdown – die Krise in der Ukraine war aber noch weit weg.
Berger sagte dazu der dpa: «Das Thema Krieg ist momentan natürlich sehr aktuell. Aber der Film entstand vor allem, weil wir vor zweieinhalb Jahren das Gefühl hatten, dass eine gefährliche Stimmung von Nationalismus aufkommt: Die Europäische Union zerfällt, rechtsextreme Parteien kommen auf, Orban in Ungarn, Trump in Amerika, Brexit – plötzlich werden Institutionen, die uns 70 Jahre Frieden beschert haben, durch Demagogie und Propaganda infrage gestellt. Wir fanden es relevant, zu zeigen, wohin eine solch aufgeladene nationalistische Stimmung und Sprache schnell führen kann.»
Bergers Epos veranschaulicht jene schnelle und gnadenlose Veränderung, mit der Krieg über Menschen wie Landstriche hinwegfegt, mit brutaler Nüchternheit. Während junge Soldaten gerade noch euphorisch singend in Richtung Westfront marschieren, liegen einige von ihnen wenige Minuten später von Schüssen durchbohrt im Schützengraben.
Der Film zeigt auch: Über 90 Jahre, nachdem Erich Maria Remarques Roman das angeschlagene Nachkriegsdeutschland schockiert hatte, hat «Im Westen nichts Neues» kaum an Brisanz verloren. Dass Remarque die Brutalität anprangerte, mit der junge Männer als Kanonenfutter in den Ersten Weltkrieg geschickt wurden, führte zu einem Verbot unter Hitler.
Berger bringt den Stoff zurück nach Deutschland
Die erste Verfilmung von Lewis Milestones 1930 wiederum wurde ausserhalb Deutschlands hochgelobt und gewann den Oscar für den besten Film sowie die beste Regie. Bergers Adaption – gemeinsam mit Lesley Paterson und Ian Stokell – bringt den Stoff nun erstmals zurück in sein Entstehungsland. Nun ist «Im Westen nichts Neues» Deutschlands Kandidat im Rennen um den Oscar in der Kategorie bester nicht-englischsprachiger Film 2023.
«Anders als bei amerikanischen oder britischen Werken kann es bei einem deutschen Kriegsfilm das Gefühl der Glorifizierung nicht geben», sagte Berger. «Bei uns dürfen wir keine Heldengeschichte erzählen, es geht immer um Trauer, Scham, Schuld und Terror. Und natürlich gibt es nichts, worauf man stolz sein kann in diesen Kriegen. Uns war es wichtig, diese singuläre deutsche Perspektive der Zerstörung zu zeigen und welche Narben das hinterlassen hat in den Menschen und in der Welt.»
Und der Regisseur hält mit nichts zurück. Die Verfilmung des Klassikers schildert die Gräuel des Ersten Weltkriegs aus der Sicht eines jungen Soldaten mit Schonungslosigkeit.
Namen und Gefühle spielen im Krieg keine Rolle
Es ist ein Kriegsfilm aus der Perspektive der Verlierer, das zeigt bereits die brutale Schlacht zum Einstieg. In Sekunden ist der schlammige Boden mit Leichen übersät. Die Soldaten ziehen ihren toten Kameraden die Uniform aus, die zerrissene Kleidung landet in einer Fabrik, wird geschrubbt und geflickt – und an neue Rekruten weitergegeben. Einer von ihnen, der 17-jährige Paul Bäumer (Felix Kammerer) schaut auf das Namensschild in der Jacke und stellt fest: «Die gehört schon jemandem.»
«Sie war ihm zu klein», lügt der Offizier. Namen, das wird schnell deutlich, spielen im Krieg keine Rolle, ebenso wenig wie Alter, Gesichter, Gefühle – und überhaupt, Menschenleben. Paul selbst hatte sich älter ausgegeben, um mit seinen Freunden den Kriegsdienst anzutreten. Doch Paul, Albert (Aaron Hilmer) und Frantz (Moritz Klaus) holt an der Westfront schnell die grausame Realität ein. Auf die naive Euphorie folgen brutale Kämpfe und pure Verzweiflung, wenn Frantz weinend zugibt: «So hab ich mir das nicht vorgestellt».
«Der Film ist eine Reise junger Menschen, wie der Hauptfigur Paul Bäumer, in den Verlust der Unschuld, in den Tod ihrer Gefühle hinein», sagt Berger. «Und wenn sie nicht sterben sollten, stirbt trotzdem ihre Unschuld. Der Film zeigt, wie man im Angesicht dieser Gewalt langsam aber sicher zur kompletten Tötungsmaschine wird.»
Die jungen Darsteller, die meisten frisch von der Schauspielschule, liefern eine beeindruckende, herzzerreissende Performance dieser «Lost Generation», der Jugend des Ersten Weltkriegs. Während grausame Kämpfe schockieren, sind es die stumpfen, weit aufgerissenen Augen in Nahaufnahme, die bewegen.
Berger inszeniert die Kriegswelt so kunstvoll, dass sie in ihrer Monochromie fast schön wirkt, mit einer Palette von braunem Schlamm über rostrotes Blut bis zu schwarzem Rauch. Der Himmel ist wolkenverhangen, die frostige Kälte greifbar, die Trostlosigkeit spürbar. Die bildgewaltigen Schlachtszenen stehen denen in «1917» von Sam Mendes in nichts nach.
Die Welt der preussischen Generäle als Kontrast
Als Kontrast zum Terror in den Schützengräben gibt Berger Einblick in die Parallelwelt der preussischen Generäle: Statt Hunger und Angst gibt es hier pralle Abendessen und realitätsfremde Arroganz.
Während der liberale Politiker Erzberger (treffend besetzt mit Daniel Brühl) versucht, seine Vorgesetzten zum Waffenstillstand und zur Aufgabe zu überreden, schicken ruhmsüchtige, halsstarrige Entscheidungsträger wie General Friedrich (Devid Striesow) Deutschlands Nachwuchs weiter gnadenlos ins Gefecht. Die älteren Männer streiten, die jüngeren sterben.
Erfahrene Soldaten wie Stanislaus Katczinsky (Albrecht Schuch), der Paul unter seine Fittiche nimmt, fürchten wiederum die Welt nach dem Krieg am meisten. Schuch spielt einen der wenigen warmherzigen Vorgesetzten mit bewegender Intensität.
Grandios unterstrichen werden Ängste wie Brutalität von Volker Bertelmanns Filmmusik. Stakkatoartige Trommelschläge, schrille Industrial-Synthesizer-Töne und trügerisch harmonische Melodien untermalen das Schrecken des Geschehens und vibrieren lange nach. Wie viele Kriegsfilme ist «Im Westen nichts Neues» schwer anzuschauen und noch schwerer abzuschütteln, jede der 147 Minuten geht tief.
Der Film läuft am 29. September in den Kinos an, ab dem 28. Oktober ist die Netflix-Produktion auf dem Streamingdienst zu sehen.