Ein Streit um Nietzsche in der DDR
Die DDR hat sich erst in ihren letzten Jahren dem bis dahin öffentlich tabuisierten Philosophen Friedrich Nietzsche angenähert, worüber ein Streit zwischen Intellektuellen entbrannte. Die Zeitschrift «Sinn und Form» veröffentlicht erstmals einige Briefe.

Das Wichtigste in Kürze
- Wenn der Philosoph Friedrich Nietzsche in der DDR «auch nur einen Millimeter an Boden» gewönne, «könnten wir in Weimar auch gleich die Büsten Mussolinis und Hitlers neben der Nietzsche-Büste aufstellen».
Mit diesen Worten warnte 1987 der Philosoph und Wissenschaftler Wolfgang Harich in einem wütenden Brief an den Schriftsteller Stephan Hermlin davor, die «Nietzsche-Renaissance», die er im Westen sah, in der DDR zu übernehmen. Hermlin plädierte für eine differenzierte Sicht auf den umstrittenen Philosophen (1844-1900/«Der Wille zur Macht»), den Harich für den «eigentlichen Begründer faschistischer Ideologie» hielt. Er sei «für immer aus dem geistigen Leben der DDR und der übrigen sozialistischen Länder zu verbannen».
Die in der von der Berliner Akademie der Künste herausgegebenen Zeitschrift «Sinn und Form» (1/2020) jetzt erstmals veröffentlichten Briefe Harichs sowie die Replik Hermlins auf einem DDR-Schriftstellerkongress werfen ein bezeichnendes Licht auf den Umgang mit heiklen Themen auch in der DDR-Kulturpolitik. Da spricht Hermlin (1915-1997) einerseits von «dogmatischen Berserkern», «verfemten Künstlern» und «anachronistischem Müll», wenn es um seiner Meinung nach einseitige Kritik an Nietzsche geht. Dagegen brandmarkt der 1995 gestorbene Harich, der in den 50er Jahren in einem Schauprozess in der DDR wegen «Bildung einer konspirativen staatsfeindlichen Gruppe» zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, Nietzsche als «Kriegstreiber», der in einem «antifaschistischen Staat» wie der DDR nicht zu Wort kommen dürfe. Ihn zu editieren sei ein «Verbrechen» und «den Mann nicht für zitierfähig zu halten, sollte zu den Grundregeln geistiger Hygiene gehören». Das sei auch einfach eine Sache des «Klassenstandpunktes».
Hermlin sah darin Äusserungen eines geistigen «Amokläufers» und plädierte für eine «differenzierte Erbeaneignung». Nietzsche existiere in der DDR nicht. «Ich halte das für einen Mangel, weil Sozialisten an keiner wesentlichen Gestalt vorbeigehen können», so wie die DDR auch «zu bedeutenden problematischen Persönlichkeiten der Geschichte wie Luther, Friedrich der Grosse und Bismarck ein neues Verhältnis gewonnen» habe. Harich zeigt sich in den jetzt veröffentlichten Briefen entsetzt, dass Hermlin als Humanist, Kommunist und Antifaschist für die, wie Harich schreibt, «menschenfeindlichste Erscheinung der Weltkultur von der Antike bis zur Gegenwart» in der DDR den publizistischen Boden bereiten wolle, womit die «Nietzsche-Renaissance aus dem Westen auch auf unsere Republik übergreift».
Kennzeichnend für das Verhältnis von Geist und Macht in der DDR sind auch Harichs Appelle an die obersten Staatsvertreter, «dagegen einzuschreiten», womit akzeptiert wird, dass Politiker dafür zuständig sind, ob und welche Philosophen und Bücher in einem Staat zulässig sind. Der Philosoph Harich hielt das offenbar für selbstverständlich, wie ja viele andere namhafte Künstler und Schriftsteller in der DDR das auch als «systemimmanent» akzeptierten.
Die jetzige Veröffentlichung in «Sinn und Form» gewinnt auch an neuer Aktualität angesichts der Diskussionen um die Entstehung einer «neuen Rechte» mit nationalistischen und fremdenfeindlichen Tendenzen und Sehnsüchten nach neuen Autoritäten in Europa, die Harich in seiner kenntnisreichen und teilweise scharfsichtigen, wenn auch einseitigen Nietzsche-Kritik damals auch schon befürchtete. «Die «blonde Bestie» darf sich wieder die Pfoten lecken.»
Harich kritisierte auch, dass das angeblich «neue Bild von Nietzsche» ihn für manche wie zum Beispiel Rudolf Augstein sogar zu einem Vordenker «für Grüne und Alternative» mache. Für den damaligen Direktor des Zentralinstituts für Philosophie an der Akademie der Wissenschaften der DDR, Manfred Buhr, wurde Nietzsche seit Ende der 1960er Jahre zur Vaterfigur auch der Ideologie «linker» Gruppierungen. «Ich bin einfach Nietzscheaner», habe der französische Philosoph Michel Foucault bekannt. Richtig sei, meinte Buhr, dass Nietzsche zwar zunächst und vor allem ein «Prediger der Gegenaufklärung» sei, aber eben auch ein «scharfblickender Psychologe in Sachen bürgerlicher Gesellschaft oder Religionen».
In einer Anmerkung zu den jetzigen Veröffentlichungen in «Sinn und Form» betont der Politikwissenschaftler Andreas Heyer, dass Harichs Widerstand gegen eine Politik der Öffnung zu Nietzsche durchaus mit dem «intellektuellen Gründungskonsens der DDR» übereinstimmte. Dann aber sei es der SED gelungen, Harich angesichts der neuen «Erbeaneignung» zum «Inbegriff des dogmatischen Stalinisten» zu machen. Sein langgehegter Wunsch, wieder in die Partei aufgenommen zu werden, wurde abgelehnt. «Die Partei tat alles, um einen sich frei äussernden Harich zu verhindern», schreibt Heyer. Harich sei zur intellektuellen Einsamkeit verdammt gewesen.
Eine von Heyer herausgegebene Nachlassedition Harichs erscheint seit 2013 im Tectum-Verlag. Die Briefe befinden sich in Harichs Nachlass im Internationalen Institut für soziale Geschichte in Amsterdam.
- Sinn und Form, Heft 1/2020, herausgegeben von der Akademie der Künste, Berlin, 11,00 Euro, ISBN 978-3-943297-51-5.