Milo Rau bezeichnet Theater als «unschweizerisch»
Regisseur Milo Rau geniesst am belgischen Theater die Möglichkeit, selber zu schaffen. Er sieht das deutsche Theater als Volkserziehungsanstalt.
Das Wichtigste in Kürze
- Milo Rau leitet das Stadttheater im belgischen Gent.
- Der Schweizer Regisseur ist in St. Gallen aufgewachsen.
- In einem Interview erklärt er, warum das Theater in der Schweiz kaum Einfluss hat.
Eigentlich hatte er sich auch für die Leitung des Stadttheaters Zürich beworben. Als ihm die Stelle als Theater-Leiter in Gent (BEL) angeboten wurde, zog er aber den Job im Ausland vor. Milo Rau sprach mit der «NZZ» über seine Beweggründe und darüber, warum es das Theater in der Schweiz schwer hat.
Auf die Frage, warum der 42-Jährige in Gent sei, erklärte er: «Ich mag es, klassisches Theater und Performance zu mischen, und dafür ist Flandern der perfekte Ort. Es gibt keinen Kanon hier, man kann die flämische Theaterliteratur in einem Nachmittag lesen. Es gibt also auch kein manisches Abarbeiten an Goethe, Schiller, Dürrenmatt und Molière wie anderswo.»
Milo Rau ist lieber in Belgien als in Zürich
Die Künstler in Belgien seien es gewohnt, nicht nur zu adaptieren, sondern selber zu kreieren. In Zürich würde er mit seinen Ideen wohl auf mehr Misstrauen stossen.
Wäre er in Zürich angestellt, würde der Regisseur, der in Bern geboren und in St. Gallen aufgewachsen ist, einiges anders machen. «Ich hätte mich als Schweizer mit Schweizer Stoffen auf die Stadt und die Politik eingelassen.»
Er stimmt der Aussage zu, dass das Theater in der Schweiz viel geringeren Einfluss habe als in Deutschland. Als einer der Gründe dafür sieht er den «extremen gesellschaftliche Wohlstand».
Die Schweiz erlebt das Theater als Bevormundung statt Gesprächsangebot
«Ein Land wie die Schweiz ist schlecht für die dramatische Kunst, da geht eigentlich nur Musiktheater. Zudem glaube ich, dass der nationale Rahmen Schweiz im Theater nicht mehr wichtig ist. Die Schweizbesessenheit von Dürrenmatt und Frisch gibt es nicht mehr», meint er.
«Man erlebt politisches Theater hier nicht als Gesprächsangebot, sondern als Bevormundung», findet er. «Das deutsche Theater ist, da die AfD immer stärker wird, gezwungenermassen zu einer Volkserziehungsanstalt geworden. Man ist in der Defensive und muss die Grundwerte des humanistischen liberalen Diskurses aufrechterhalten.»
Das wäre hier auch nötig, ist Milo Rau überzeugt. Aber in der Schweiz könne man so etwas nicht bringen. «Die Schweiz hatte nie einen Schiller oder Brecht. Wir hatten einen Dürrenmatt oder einen Robert Walser, unsere Tradition mag das Kleine, Absurde.»
Theater sei «sehr unschweizerisch»
Dafür werde es in der Schweiz schnell persönlich. «In Deutschland wirst du fertiggemacht, weil du einen unangebrachten Nazivergleich machst oder eine Minderheit beleidigst. In der Schweiz, weil jemand dein Auftreten nicht mag.»
Ein weiterer Grund für den mangelnden Einfluss dürfte auch die offene Form des Theaters sein.
«Das Theater als Kunstform ist ein ständiger Anschlag gegen die Zurückhaltung. Theater ist die extrovertierte Kunstform per se. Im Theater ist alles real, alles aufdringlich und unhöflich echt. Sehr unschweizerisch», so Milo Rau.