Selma Kay Matters Prosadebüt plädiert für mehr Care und Community

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Im Prosadebüt «Muskeln aus Plastik» beschreibt Selma Kay Matter Erschöpfung, Essstörung, Schmerzen und Transition.

Selma Kay Matter hat «Grelle Tage» geschrieben. Dieses Theaterstück erscheint  als Buch. Es eröffnet dem Publikum neue Perspektiven auf das Stück.
Selma Kay Matter. (Archivbild) - sda - Handout: Billie Söntgen / Selma Kay Matter

Im Prosadebüt «Muskeln aus Plastik» sucht Selma Kay Matter nach Worten und Beschreibungen für Erschöpfung, Essstörung, Schmerzen oder Transition. Nur wenige Tage vor der Buchvernisssage in Berlin hatte Matters Theaterstück «Grelle Tage» ausserdem Premiere am Schauspielhaus Bochum.

Der Literaturbetrieb ist für Selma Kay Matter erst einmal noch neu. Das Theater hingegen ist «ein Ort, dessen Arbeitsweisen, Mechanismen und Konventionen ich inzwischen sehr gut kenne. Theater ist das, was ich gelernt habe», sagt Matter der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.

Von preisgekrönten Theaterstücken zu gesundheitlichen Herausforderungen

Matter, 1998 in Zürich geboren, hat Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin studiert und bereits vier Theaterstücke geschrieben, als Duo mit Marie Lucienne Verse oder alleine. So stellt das Theaterstück «Grelle Tage» das Schmelzen des Permafrosts in Sibirien neben das Austrocknen eines Sees in Brandenburg. Und schickt die 13-jährige Figur Jo mit einem 13'000 Jahre alten, zerfledderten Hund auf einen Roadtrip quasi zur Rettung des Matterhorns.

Der Theatertext entstand 2022 und hat seither das Hans-Gratzer-Preis und einen Nestroy gewonnen. Uraufführung war Anfang 2023 in Wien. Doch nach ersten Auszeichnungen und ersten Aufführungen an grösseren Theatern wie dem Berliner Ensemble wurde Matter krank.

Schreiben als Rettung in Zeiten des Schmerzes

In der schmerzgeplagten, aussichtslosen Zeit während der Krankheit halfen Matter das Lesen und das eigene Schreiben.

«Ich habe Notizen gemacht. Meine Situation hat ganz neue Fragen aufgeworfen: Gibt es irgendetwas, was ausserhalb des Schmerzes liegt? Und wie kann man die Einsamkeit überwinden, die der nicht mitteilbare Schmerz mit sich bringt?»

Antworten fand Matter in theoretischen Texten von Sara Ahmed, Elaine Scarry oder Alison Kafer, die halfen, die eigene Erfahrung zu begreifen und einzuordnen.

Über Kampf um Sprache und Anerkennung in nichtbehinderter Welt

Diese Theorie verwebt Matter nun auch in «Muskeln aus Plastik». Formal angelehnt an eine englischsprachige Literary-Non-Fiction-Tradition von Chronic-Illness-Memoirs und trans Novels sucht Matter essayistisch nach einer Sprache für den «nicht mitteilbaren Schmerz». Und für all jene Situationen, wo Überforderung, Unwissen und Vorurteile in unserer nichtbehinderten, heteronormativen Mehrheitsgesellschaft das Sprechen verhindern.

In sechs autofiktionalen Essays oder in einer Geschichte in sechs Kapiteln skizziert Matter Momente, wo Körper nicht «normal» funktionieren. Was es auf individueller Ebene heisst, pflegebedürftig zu sein, ständig gezwungen zu sein, die intimsten Diagnosen preiszugeben oder die eigene Geschlechtsidentität zu erklären.

Wie lange Freunde, Familie oder Liebesbeziehungen Empathie und Verständnis aufbringen. Aber auch von Krankenkassenverfahren, was die fehlende Anerkennung kostet und welche Care- und Access-Bedürfnisse strukturell ständig übergangen werden.

Über den Wert von Sprache und Zuhören

«Ich habe versucht, den Text zu schreiben, der mir selbst fehlte», sagt Matter und widmet das Buch allen, die es brauchen. So erzählt jede Seite von Durchhaltewillen, aber auch vom gleichzeitigen Aufgeben und Herbeisehnen eines vollständigen Verständnisses und Gesehenwerdens. Dafür braucht es nicht zuletzt eine sprachliche Sensibilisierung, die Matter mit einem Glossar im Anhang miterzählt, aber auch mit zahlreichen konkreten Momentaufnahmen.

So erinnert sich das Ich beispielsweise daran, wie wertvoll es war, dass die amerikanische Halbschwester Abby einmal nachfragte: «Wanna share?», und welchen Unterschied die Sprache hier macht. «Wenn im Englischen gefragt wird: ‹Wanna share?›, ist wortwörtlich gemeint, ob jemand von etwas erzählen möchte. Aber es ist immer auch ein Angebot, die Last des Erlebten mit dem zuhörenden Gegenüber zu teilen», führt eine der vielen Fussnoten aus.

Anerkennung von Wut und Frustration in Care-Arbeit

Als Leserin oder Leser kann man dem Ich über die Schultern schauen beim eigenen Lernprozess auf der Suche nach einer «magischen Selbstverständlichkeit» und «Disability Justice». «Wenn ich von Disability Justice träume, träume ich davon, dass niemand Care gerne machen muss.»

«Davon, dass die Wut, die die Pflege Leistenden mitunter fühlen, weil sie vom Fehlen staatlicher Care-Strukturen erschöpft sind, nicht länger tabuisiert wird. Davon, dass diese negativen Affekte einen Raum bekommen, weil sich die Frustration nicht auf die Pflegebedürftigen richtet. Sondern auf die anonymen und nicht adressierbaren Verhältnisse.»

«Muskeln aus Plastik»: Vielschichtiges Plädoyer für mehr Care und Community

Vielschichtig verwebt das Ich die individuelle Erfahrung, mit literarischen und theoretischen Texten und zeigt dabei strukturelle Probleme auf. Ohne je den Humor, Selbstkritik oder die Hoffnung auf eine «Heilung» zu verlieren. Letztere, so vermutet das Ich, liege «irgendwo zwischen Wut und Community, zwischen Care und Politisierung, zwischen Durchhalten und einem Nachgeben, das jedoch kein Aufgeben ist».

Gerechtigkeit als gesellschaftliche Praxis und kollektive Verantwortung, und nicht als individuelles Problem, das immer auch mit der Angst verbunden ist, zu viel Arbeit zu sein. Angesichts des ständig selbstoptimierenden Individualismus unserer Gesellschaft sind die «Muskeln aus Plastik» ein wichtiger «Fehler im System». Ein vielschichtiges, kluges und zärtliches Plädoyer für mehr Care und Community.*

* Dieser Text von Philine Erni, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

Kommentare

User #1877 (nicht angemeldet)

Kennt die den Flamingo aus Biel?

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