Staunen und gruseln in der Wunderkammer
Die Vorläufer der heutigen Museen waren die Wunderkammern europäischer Fürsten. Einige haben sich erhalten. Ein Prachtband führt jetzt in die Säle und Gewölbe voller Schätze, Kuriositäten und - Abscheulichkeiten.
Das Wichtigste in Kürze
- Rembrandt verdiente gar nicht schlecht.
Dass er trotzdem bankrott ging, lag an seinen enormen Ausgaben, und die waren wiederum seiner Sammelleidenschaft geschuldet. Der holländische Maler leistete sich eine eigene Wunderkammer - ein Hobby, das sich sonst nur finanzstarke Fürsten erlaubten.
In einem Raum im ersten Stock seines Hauses in Amsterdam hortete der Künstler unter anderem getrocknete Korallen, einen ausgestopften Paradiesvogel, zwei Löwenfelle und Indianerspeere.
Welche Faszination für die Menschen der frühen Neuzeit von solchen Wunder- oder Kunstkammern ausging, macht jetzt ein neuer Prachtband aus dem Taschen-Verlag nachvollziehbar. «Cabinet of Curiosities - Das Buch der Wunderkammern» heisst das dreisprachige Werk im XXL-Format.
In der Einleitung erläutert der italienische Kunsthistoriker Antonio Paolucci, dass die Wunderkammer einst als Abbild des ganzen Universums galt. Was den heute Lebenden als wildes Sammelsurium erscheinen mag, repräsentierte in den Augen des Renaissance-Menschen einen Kosmos im Kleinen. Die Kunstkammer war angelegt als Imitation der göttlichen Schöpfung - und das Ziel ihrer Eigentümer nichts weniger, als das gesamte Wissen der Menschheit in einem einzigen Raum zusammenzuführen.
Vom Sammelfieber infiziert war unter anderem der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Rudolf II. (1552-1612), der in Prag ungeheure Schätze anhäufte und sich mit Künstlern und Wissenschaftlern aus ganz Europa umgab, bis er schliesslich als verrückt hingestellt und entmachtet wurde.
In den fürstlichen Kollektionen gab es sogar die Hörner eines Einhorns zu bestaunen - tatsächlich waren es Stosszähne des Narwals. Seespinnen, Korallen, Muscheln und Tropenfische bezogen die Herrscher von den grossen Ostindienkompanien Hollands und Englands. In Anbetracht der Tatsache, dass jedes Jahr nur einige wenige Flotten in den Häfen von Amsterdam und London eintrafen, kosteten diese Überseeimporte ein Vermögen.
Das Buch beginnt mit dem Grünen Gewölbe in Dresden. Dank des riesigen Formats und der Qualität der Fotografien hat man das Gefühl, die vor barocker Pracht überbordenden Räume selbst zu durchmessen und nach Drachenkanne und Jungfrauenbecher greifen zu können. Schloss Friedenstein in Gotha verblüfft mit Wachsporträts wie bei Madame Tussaud, die Franckeschen Stiftungen in Halle nennen dafür ein 300 Jahre altes Krokodil ihr eigen.
Eine der hochkarätigsten Sammlungen beherbergt das legendäre Schloss Ambras in Innsbruck. Die Kollektion wurde wesentlich im 16. Jahrhundert von dem Habsburgerfürsten Ferdinand II. zusammengebracht. Bizarr sind die Gemälde behaarter Menschen, mitleiderregend das Abbild eines behinderten nackten Mannes, furchteinflössend das Porträt des Fürsten Dracula, der als «Pfähler» in die Geschichte einging.
So geht es weiter durch halb Europa. Manche Sammlungen erinnern eher an ein exzentrisches Kirmespanoptikum, in anderen erkennt man schon die Vorläufer heutiger Museen, zusammengestellt mit wissenschaftlichem Ordnungssinn. Eine faszinierende Reise - ein bezauberndes Buch.
- Giulia Carciotto, Antonio Paolucci: Cabinet of Curiosities, Taschen Verlag Köln 2020, 356 Seiten, 100 Euro, ISBN-13: 978-3836540353.