Wie der Holocaust in einer kleinen Stadt wütete
Im Galizien lebten die Volksgruppen immer unter Spannungen zusammen. Omer Bartov hat dazu ein verstörendes, aber brillantes Buch verfasst. Wie aus Feindseligkeit unter deutschem Befehl Massenmord wurde.
Das Wichtigste in Kürze
- Für die Juden in der besetzten ukrainischen Kleinstadt Buczacz gab es kein Entrinnen.
Im Zweiten Weltkrieg vertrieben deutsche Sicherheitspolizisten jüdische Familien aus ihren Häusern, plünderten sie aus.
Immer wieder wurden Männer, Frauen und Kinder aus der Stadt hinaus auf einen Berg geführt und ermordet. 1943 erklärten die Nazi-Behörden Buczacz für «judenfrei». Doch auch das war nicht das Ende des Martyriums für die letzten versteckten Juden.
Das Buch «Anatomie eines Genozids. Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz» des israelischen Historikers Omer Bartov ist in seinen grausamen Details eine verstörende Lektüre. Aber es ist auch ein brillant recherchiertes und geschriebenes Buch. Und es ist als Mahnung sehr aktuell angesichts der Zunahme antisemitischer Stimmen auch in Deutschland.
Bartov, Professor in den USA, erzählt vom Holocaust als Ortsgeschichte: Wie konnte die systematische Ermordung der Juden am helllichten Tag stattfinden - vor den Augen der ukrainischen und polnischen Nachbarn, manchmal gar unter ihrer Mithilfe?
Buczacz (so die polnische Schreibweise) liegt im Westen der heutigen Ukraine im Gebiet Ternopil. Für Bartov ist es die Stadt, aus der seine Mutter stammt. Mehr als 20 Jahre hat er nach den Namen der Ermordeten gesucht und aus spärlichen Spuren ihre Geschichte rekonstruiert. Zugleich ist Buczacz nur eins von vielen jüdischen Schtetln in Osteuropa, die Schauplatz des Holocaust wurden.
Bartovs These: Der Gewalt gegen die Juden in der historischen Region Galizien wurde lange vorher der Boden bereitet. Polen, Ukrainer, Russen sahen die vermeintlich Fremden mit Misstrauen und drangsalierten sie. Das frühe 20. Jahrhundert und der Erste Weltkrieg brachten in Galizien eine Kette von Machtwechseln, Aufständen, Eroberungen und Rückeroberungen. Und jede neue Obrigkeit fand eigene Gründe, die Juden zu quälen.
Zwischen den Kriegen war das Gebiet polnisch. Im Streit zwischen Polen und Ukrainern um die örtliche Vorherrschaft waren die Juden oft die leidtragenden Dritten. Dabei stellten sie laut Volkszählung von 1921 in Buczacz die Mehrheit: Von 7517 Einwohnern waren 50 Prozent jüdischen Glaubens. 30 Prozent waren römisch-katholische Polen, 20 Prozent griechisch-katholische Ukrainer.
Im Juli 1941 brach zusätzlich der nationalsozialistische Rassenwahn über die Stadt herein. Hinter der Front begannen Sicherheitspolizei und SS mit dem systematischen Mord an der jüdischen Bevölkerung. Viele Ukrainer liessen sich aus Hass auf die Polen wie auf die kurze sowjetische Besatzung seit 1939 zu Handlangern machen.
Die deutschen Polizisten schufen sich mitten im Völkermord in Buczacz «Inseln der Normalität», wie Bartov schreibt. Sie assen Kuchen, tranken Bier, legten sich Geliebte zu oder liessen Frau und Kinder aus Deutschland zu Besuch kommen. Sie liessen jüdische Hausangestellte für sich arbeiten und schickten sie dann in den Tod. Erinnern wollten sie sich an ihre Greueltaten nicht. In den wenigen Prozessen in der Bundesrepublik nach dem Krieg beriefen sie sich auf den Befehlsnotstand oder sagten, sie seien nicht beteiligt gewesen.
Die bedrängten Juden konnten nichts tun, wie Bartov schreibt. Einige kollaborierten im Judenrat oder im Ordnungsdienst mit den Deutschen, um die eigene Familie, das eigene Leben wenigstens für eine kurze Weile zu retten. Manche junge Männer versuchten sich zu den sowjetischen Partisanen durchzuschlagen.
Etwa 8000 jüdische Männer, Frauen und Kinder wurden in und um Buczacz ermordet. Nur wenige Dutzend überlebten, und das hing oft von Zufällen ab: Verriet ein ukrainischer Bauer eine im Wald versteckte jüdische Familie, oder versorgte er sie unter Lebensgefahr mit Essen? «Das Böse des Massenmords wird durch einzelne gute Taten in keiner Weise gemindert», zieht Bartov ein moralisches Fazit. Doch es habe solche Rettungstaten gegeben, die zeigten: «Es gibt immer eine Wahl.»
Bartov stützt die Schilderung der einzelnen Schicksale auf Dokumente in Archiven in Polen, der Ukraine, Deutschland, Israel und den USA. In seinen englischen Text sind viele Zitate eingearbeitet. Dem Berliner Übersetzer Anselm Bühling ist es gelungen, diese Auszüge mit den Originaldokumenten in vielen Sprachen abzugleichen und in einen deutschen Sprachfluss zu bringen.
- Omer Bartov: Anatomie eines Genozids. Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz, Suhrkamp Verlag/Jüdischer Verlag Berlin, 486 Seiten, 28,00 Euro, ISBN 978-3-633-54309-0.