Alain Berset verschickt bedeutungsschwangere Weihnachtsgrüsse
Die offizielle Weihnachtskarte von Bundesrat Alain Berset ist ganz nett. Bei genauerer Betrachtung steckt sie voller (Corona-)Symbolik.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Weihnachtskarte von Bundesrat Alain Berset zeigt eine Blume.
- Die Karte hat vordergründig nichts mit der Pandemie zu tun.
- Bei genauerer Betrachtung zeigen sich aber aktuelle Zusammenhänge.
Wie jedes Jahr wünschen die Bundesrätinnen und Bundesräte ihrer angestammten Adressliste frohe Festtage und ein gutes Neues Jahr. Sie tun dies (wie jedes Jahr) mit eigens ausgesuchten Sujets, die (wie jedes Jahr) die Gemüter spalten.
Gesundheitsminister Alain Berset setzt heuer auf die Nahaufnahme einer Blume. Jedes Jahr ist die Karte gestaltet von Nominierten für den Schweizer Designpreis, 2021 ist dies die Fotografin Maya Rochat. «Mal etwas weg vom Corona-Drama», freuen sich die einen, andere ärgern sich über die unweigerlich ans Virus gemahnende kugelige Samenkapsel. Zusammen mit dem Kartentext ergibt sich aber eine weitaus spannendere Symbolik.
Blutrote Blumen
Berset legt seinen Adressaten ein Zitat des Malers Henri Matisse aus dessen Buch «Jazz» ans Herzen. «Es gibt überall Blumen, für den, der sie sehen will», schrieb Matisse 1947. Wer ein blutrotes Virus sieht, ist also selber schuld? Das wäre eine etwas arg passiv-aggressive Weihnachtsbotschaft.
Matisse war 1941 monatelang schwer krank, 1943 verlegte er sein Atelier wegen eines Luftangriffs und begann, an «Jazz» zu arbeiten. 1944 wurde seine Tochter als Mitglied der französischen Résistance deportiert. Das Blumen-Zitat soll also Motivationshilfe sein in schweren Zeiten: wohl in den Vierzigerjahren auch für Matisse selbst, 2021 für die pandemiegeplagte Schweiz.
Zusammenhänge allenthalben
Und dann war da eben noch die Scheidung von seiner Frau. Nun wollen wir nicht allzu viel hineininterpretieren in die Parallele, dass auch Alain Berset Eheprobleme haben soll. Interessant ist hingegen der Ursprung derselben bei Henri Matisse.
Sie begannen, als Matisse die aus Russland geflüchtete Lydia Delectorskaya anstellte. Sie arbeitete als Studio-Assistentin und Haushaltshilfe, später als sein wichtigstes Modell, Muse und Managerin.
Mit Delectorskaya schliesst sich der Kreis zurück zur Corona-Pandemie. 1910 geboren, war sie 1922 – vor genau 100 Jahren – bereits Vollwaise. Ihre Eltern starben im sibirischen Tomsk an aufeinanderfolgenden Epidemien: Zuerst Typhus, dann Cholera. Lydia Delectorskaya hatte sowohl die Seuchen in ihrer Biografie und war auch massgeblich an den Arbeiten zu «Jazz» beteiligt.
Opium fürs Volk oder alles nur Zirkus?
Andere Symbolik von Alain Bersets Weihnachtskarte ist weniger offensichtlich und wohl auch weniger gewollt. So zeigt die Fotografie von Maya Rochat eine Mohnblume, deren kräftiges Rot in vielen Ländern an gefallene Soldaten gemahnt. Der Mohnanbau dient aber auch der Produktion von Rohopium, denn die Samen enthalten unter anderem Morphin. Die Redewendung «Opium des Volkes» als Kritik an Religion oder Ignoranz geht zurück auf Karl Marx und Marquis de Sade.
Dass Alain Berset die Bevölkerung weihnächtlich einlullen wollte, ist aber genauso unwahrscheinlich wie eine Anspielung auf den Morphin-Versorgungsengpass der Spitäler. Denn in Rochats Werk geht es um einheimische Wildblumen, also wenn schon den Klatschmohn, nicht den Schlafmohn.
Hineininterpretieren könnte man auch Zusammenhänge in den Namen Delectorskaya. Der «Delektor» ist ein Geniesser, Lydia also die Frau oder Tochter eines Geniessers. Ursprünglich war sie an der Pariser Sorbonne-Universität als Medizinstudentin akzeptiert, blieb dann aber der Kunst treu. Sollten wir weniger auf Ärzte hören und stattdessen das Leben sorgenfreier geniessen, während um uns herum die Pandemie tobt?
Auch der Titel des Kunstbands von Henri Matisse, «Jazz», lässt hellhörig werden. Denn Jazz ist die alte Liebe Alain Bersets, selbst als Bundesrat jammt er ab und an spontan am Piano. Gut möglich, dass sich Berset deswegen überhaupt erst näher mit der grafischen Adaption des Rhythmus durch Matisse beschäftigte.
Gut möglich ist aber auch, dass Berset nicht wusste, dass das Buch ursprünglich «Cirque» (Zirkus) hätte heissen sollen. Was seinen Kritikern nun als Steilvorlage für faule Sprüche oder gar «Beweis» für die Einordnung seines Pandemie-Managements dienen wird. Ihnen und allen weiteren Suchenden sei ein weiteres Zitat von Henri Matisse empfohlen: «Genauigkeit ist noch lange nicht die Wahrheit.»