Applaus für Klimakleber: War's das jetzt?
Klimakleber stürmen die Bühne des Locarno Film Festival. Man applaudiert und lässt sie reden. Wird nun alles gut? Ein Kommentar.
Das Wichtigste in Kürze
- Am Locarno Film Festival haben Klimakleber die Bühne gestürmt.
- Sie erhielten für ihre Aktion grösstenteils Applaus.
- Ein Widerspruch? Ein Kommentar.
Geht es um das Locarno Film Festival und die Freilicht-Aufführungen auf der Piazza Grande, überbieten sich die Cineasten jeweils mit Adjektiven: Malerisch, glamourös, einzigartig. Ziemlich einzigartig dürfte auch sein, was sich gestern auf der Bühne vor der Leinwand abspielte.
Grad noch wurden Reden geschwungen zum bald startenden abendlichen Kino-Event, schon stürmten zwei Klima-Aktivisten an den Bühnenrand und rissen die verträumt lauschenden Stuhlreihen voll mit Tausenden Festival-Besuchern zurück in die harte Realität. So weit, so unoriginell im 2023. Einzigartigkeitsanspruch erheben darf dann aber der Applaus, der folgte. Jawohl: Applaus für Klimakleber.
Aktivisten: Nett – und harmlos?
Ist das jetzt das Ende der Revolution, werden die jungen Störenfriede beklatscht, wird ihnen aufmunternd zugenickt, und damit ins Leere laufen gelassen? So wie Onkel und Tanten «begeistert» Kinderzeichnungen betrachten und den «Dinosaurier» bewundern, der genau so gut ein arabisches Schriftzeichen sein könnte: Das hast du aber sehr gut gemacht! Und nächstes Mal vielleicht sogar auf einem Blatt Papier statt dem Sideboard.
Nicht ganz. Der Applaus ist insofern wenig überraschend, als die Aktivisten von «Renovate Switzerland» sozusagen ein Heimspiel hatten. «Gestört» wurde der Regisseur Luc Jacquet, selbst ein Umweltschützer, dessen Film «Reise zum Südpol» für die Erhaltung des Planeten sensibilisieren soll. Entsprechend ist auch das Publikum zusammengesetzt – und der Applaus übertönt die durchaus vorhandenen Buh-Rufe.
Ganz zufälligerweise springen die jungen Aktivisten auch gerade dann auf die Bühne, als Luc Jacquet von «jungen Aktivisten» spricht. Prompt de-eskalieren er und Festival-Direktor Marco Solari die Situation und lassen die Klimakleber einige Worte zum Publikum sagen: ««Wir sind hier für die gleiche Sache», stellt Jacquet klar.
Der Haken an der Sache
«Renovate Switzerland» feiert dies als Erfolg, schliesslich erhielt man eine Plattform, konnte seine Botschaft anbringen und stiess erst noch auf Zustimmung. Wie es sich für mit – aus Verzweiflung – mit unlauteren Mitteln kämpfende Weltretter gehört, seien sie danach davongetragen und auf den Polizeiposten gebracht worden.
Nur ist davon auf den Bildern wenig zu sehen. Die an den Bühnenrand geklebten Hände kommen schnell frei – entweder hat das Sicherheitspersonal bereits Routine oder der Kleber war mehr virtuell. Weggetragen wird niemand, die Tessiner Kantonspolizei vermeldet rein gar nichts. Während der eine Klimakleber ins Mikrofon spricht, hält die andere Klimakleberin Händchen mit Luc Jacquet.
Schliesslich geleitet der 78jährige Marco Scolari, einen Arm väterlich um die Schultern gelegt, die beiden von der Bühne. Er habe den beiden in die Augen geschaut und in sich enorme Zärtlichkeit aufkommen gespürt: «Sie zitterten wie Espenlaub.» Trotz Filmfestival: Die Polizei erhält keine tragende Rolle. Also doch die totale Entwaffnung der mutigen Renovierer durch verständnisvolle Alte?
Spieglein, Spieglein, an der Leinwand
Nicht ganz. Dass in der Hektik die Genauigkeit auf der Strecke bleibt, kommt schliesslich in den besten Familien vor. Dass mit ein wenig Klatschen das Problem nicht aus der Welt geschaffen ist – davon können Pflegefachleute ein durchgetaktetes Lied singen. Vielleicht ging beim Übersetzen – die Aktivisten stammen aus der Romandie – ein wenig Sinn und Zweck verloren.
Bestes Entlastungsbeispiel ist die Website des Locarno Film Festival selbst. Unter «Latest Tweets» werden zwei Jahre alte Mitteilungen von damaligen Leoparden-Verleihungen angezeigt. Schaut man auf Twitter beziehungsweise «X» nach, sind durchaus aktuelle Mitteilungen zu finden.
So wie im Twitter-Feed der Tessiner Kantonspolizei, die durchaus etwas zu melden hat, einfach keine Klimakleber-Kontrollen. Sondern Verkehrskontrollen: Fast im Stundentakt wird aktualisiert, dass es Stau, mehr Stau, viel mehr Stau, grad keinen Stau – ah halt, jetzt doch wieder Stau vor dem Gotthard habe. Was weder einzigartig noch überraschend ist, schliesslich müssen die rund 8000, den Klimaklebern applaudierenden Kino- und Planeten-Fans auch von der malerischen Piazza Grande wieder in die harte Realität zurück.