Coronavirus: Erinnerungen zum ersten Lockdown-«Jubiläum»
Vor einem Jahr schickte der Bundesrat die Schweiz in den ersten Lockdown. Die Erinnerung ist bleibend – auch für den stellvertretenden Chefredaktor von Nau.ch.
Das Wichtigste in Kürze
- Am 16. März 2020 ruft der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» und den Lockdown aus.
- Von der Einigkeit von damals ist nichts übrig geblieben, die Lage noch immer schwierig.
- Nau.ch-Politikchef Christof Vuille erinnert sich an den historischen Tag.
Die SVP wähnt sich in einer Diktatur. Die FDP droht mit einer PUK wegen dem Impf-Chaos. Die Kantone fühlen sich im Terrassen-Streit vom Bundesrat übergangen. In der Schweiz herrscht Polit-Zoff wie nie zuvor.
Vor genau einem Jahr war das völlig anders. Am 16. März 2020 schickt der Bundesrat die Schweiz in den Lockdown. Und alle Parteien, die Kantone und auch die Medien applaudieren zum wohl extremsten Einschnitt in die Freiheit seit dem zweiten Weltkrieg.
März 2020: Die Schweiz in der Krise
Doch wie kam es dazu? Seit Tagen befand sich die Schweiz zuvor im Krisenmodus. Innert Kürze war das Coronavirus von Norditalien in die Schweiz übergeschnappt. Nau.ch und auch die Konkurrenz verschicken zu jedem neu entdeckten Fall eine Push-Nachricht. Bis irgendwann die Übersicht verlorengeht.
Am Sonntagabend des 15. März machen Gerüchte die Runde, wonach sich der Bundesrat zu einer Krisensitzung getroffen hat. Informationen dieses Treffens dringen nicht nach aussen. Doch spätestens nun ist klar: Da kommt etwas Grosses auf die Schweiz zu.
Der Montagmorgen ist für hunderttausende Schweizerinnen und Schweizer der erste Tag im Home-Office. Man richtet sich ein, macht dumme Scherze und blickt gebannt nach Bern. Kommen wirklich noch drastischere Einschränkungen? Schliesslich gilt seit dem Freitag eine Kapazitätsbeschränkung in Restaurants, Grossanläse sind längst verboten.
Am Mittag wird klar: «Ja, der Lockdown kommt»
Der Moment der Wahrheit kommt für die Chefredaktion von Nau.ch bereits kurz vor Mittag. Weil es Gerüchte gibt über ein Treffen mit kantonalen Gesundheitsdirektoren, mache ich mich auf den Weg in die Stadt. Auf dem Bundesplatz treffe ich zufällig Mitte-Präsident Gerhard Pfister und FDP-Chefin Petra Gössi.
Die beiden dürften damals bereits gewusst haben, was auf das Land zukommt, verraten aber nichts. Sie lassen sich gemeinsam bloss folgendermassen zitieren: «Halten Sie sich an die Beschlüsse des Bundesrats!»
Wenig später strömen plötzlich Bundesräte und Chefbeamte wie Daniel Koch aus dem Bernerhof in der Nähe des Bundeshauses. Ich suche mit verschiedenen Personen das Gespräch.
Und ziemlich direkt bestätigt mir eine bundesratsnahe Quelle: Ja, heute kommt der Lockdown. Ab Morgen geht alles zu. «Also alle Restaurants und Läden? Alle Coiffeur-Geschäfte?» Ja, alles, bis auf Lebensmittelgeschäfte. Eine weitere involvierte Person bestätigt, dass es wohl so kommen wird.
Auf dem Weg in meine zum Büro umfunktionierten Stube gehe ich rasch im Migros vorbei. Und ertappe mich dabei, wie ich instinktiv zwei Packungen Teigwaren einkaufe, die ich eigentlich nicht wirklich brauche. Doch die Angst vor Hamsterkäufen war gross – und nicht ganz unbegründet, wie sich später herausstellen sollte.
Wir diskutieren intern: Kann man eine solche Information bringen? Sollten sich die Informationen als falsch herausstellen: Man würde uns Journalisten zurecht den Vorwurf machen, Panik zu verbreiten. Und: Der offizielle Entscheid im Bundesrat ist noch nicht gefallen. Wir entscheiden uns dafür, die Nachricht zu publizieren. Weisen aber darauf hin, dass noch nichts in Stein gemeisselt ist.
Hunderttausende schauen zu – Server sind überlastet
Unklar ist zu diesem Zeitpunkt nämlich etwa, ab wann das öffentliche Leben zum Erliegen kommt. Der «Blick» spekuliert, dass dies bereits ab dem Nachmittag der Fall sei. Andere meinen, die Regelungen gelten ab dem Abend.
Nun heisst es warten. Der Bundesrat werde «nicht vor 15 Uhr» kommunizieren, heisst es. Aus 15 Uhr wird 16 Uhr. Zehntausende Personen haben den Youtube-Link zur angekündigten Pressekonferenz bereits geöffnet und warten. Die Nervosität im Medienzentrum des Bundes steigt.
Um 17 Uhr ist es endlich so weit. Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga, Gesundheitsminister Alain Berset, Justizministerin Karin Keller-Sutter und Verteidigungsminister Viola Amherd treten auf. Im Publikum sitzen diverse Chefbeamte.
Die Server von Nau.ch sind dem Ansturm neuer User kaum gewachsen. Immer wieder stürzt die Seite ab. Kein Wunder: Gegen eine Million Leserinnen und Leser wollen wissen, was nun wirklich gilt. Und Sommaruga kommt sofort zum Punkt und sagt erstmals: «Jetzt muss ein Ruck durch unser Land gehen.»
Eindringlich schildert die Berner Bundesrätin, dass mit der Ausrufung der ausserordentlichen Lage die Überlastung des Gesundheitswesens verhindert werden soll. Und verspricht der Bevölkerung: «Wir lassen euch nicht allein.»
Alles schliesst – die Schweiz ist geeint wie nie
In den nächsten 90 Minuten erklären die vier Bundesräte erstmals die Schliessung von Geschäften, die Kontrolle von Landesgrenzen und den Appell: «Bleiben Sie zu Hause.» Ich habe wie viele andere Journalisten im Medienzentrum Gänsehaut. Doch schnell wird klar: Die Bevölkerung wird sich an die neuen Regeln halten.
Denn die Schweiz ist in ihrer grössten Krise geeint wie selten zuvor. Noch am Abend der Ausrufung des Lockdowns verschicken alle Parteien eine gemeinsame Mitteilung. Darin steht zum Beispiel: «Die politischen Parteien stehen vereint und vorbehaltslos hinter dem Bundesrat.»
Kritik sucht man tags darauf in den Medien vergeblich. Auch Nau.ch schreibt im Kommentar: «Lockdown-Hammer ist einzig gangbarer Weg». Die Schulter-an-Schulter-Mentalität hält allerdings nicht lange an. Rasch entbrannt ein Streit um Lockerungen.
Ein Jahr später ist das nicht anders. Noch immer – beziehungsweise wieder – sind alle Restaurants im Land geschlossen, es gilt offiziell eine Homeoffice-Pflicht.
Der Ton ist schärfer geworden. Bürger und Unternehmen sind ungeduldig. Die Entwicklung der Fallzahlen in den nächsten Tagen dürfte darüber entscheiden, ob der Bundesrat den Teil-Lockdown ab nächstem Montag beendet. Hoffentlich zum letzten Mal.