Coronavirus: Fiasko um Positivitätsrate im BAG sorgt für Ärger
Das BAG gibt zu: Die Positivitätsrate des Coronavirus ist überschätzt. Während die Ösis zeigen wies geht, sorgt die Enthüllung für Wut in der Schweizer Politik.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Positivitätsrate ist überschätzt, weil das BAG teils negative Resultate nicht erfasst.
- Die Erfassung wäre zentral: In Österreich ist die Positivitätsrate massiv gesunken.
- Weil der Wert über das Schicksal ganzer Branchen entscheidet, sorgt der Lapsus für Wut.
Die Berechnung der Positivitätsrate in der Schweiz verkommt zur Farce. Obwohl der Bund eine Milliarde Franken für Massentests auf das Coronavirus bereitstellt, fliessen diese kaum in die Statistik ein.
Wie Nau.ch am Freitag enthüllt, erfasst das Bundesamt für Gesundheit BAG die negativen Resultate der Präventiv-Massentests an Schulen und Altersheimen nicht.
Die Folge: Die Positivitätsrate ist «eine Überschätzung», wie das BAG kleinlaut einräumt. Ein Schlag ins Gesicht für Branchen wie die Gastronomie, deren Öffnung von einem tiefen Wert abhängt. Gesundheitsminister Alain Berset verlangt nämlich eine Positivitätsrate von unter fünf Prozent, damit Beizen im April öffnen dürfen.
Wie hoch die tatsächliche Positivitätsrate ist, lässt sich nur erahnen. Denn noch machen längst nicht alle Kantone aktiv mit. Ein Blick nach Österreich zeigt aber: Sie könnte massiv tiefer liegen.
Coronavirus: Österreicher drücken Positivität auf 0,7 Prozent runter
Was Massentests angeht, sind die Ösis der Schweiz weit voraus. Bereits im Dezember begann das Land mit ähnlicher Einwohnerzahl mit flächendeckenden Tests. Heute lassen sich täglich 200'000 Personen in Österreich auf das Coronavirus testen. In der Schweiz sind es – zumindest offiziell – nur etwa 30'000.
Bundeskanzler Sebastian Kurz setzt auf Tests im grossen Stil: Alleine diese Woche sollen es zwei Millionen sein.
Das Testen ist die beste Möglichkeit trotz Pandemie etwas mehr an Freiheit zurückzugewinnen anstatt im Dauerlockdown zu verharren. Es ist erfreulich, dass die Branchenvertreter der Gastronomie nun auch bereit sind, beim Eintrittstesten mitzumachen.
— Sebastian Kurz (@sebastiankurz) February 19, 2021
Zur Diskussion stehen gar Zutrittstests für Cafés oder Restaurants, damit die Gastronomie noch vor Ostern öffnen kann. Da Österreich die Massentests auch national erfasst, zeigt die Positivitätsrate steil nach unten.
Gemäss der letzten Berechnung der Behörden liegt die aktuelle Rate bei 0,7 Prozent. In der Schweiz wies das BAG am Freitag einen Wert von 3,3 Prozent aus. Diese Zahl ist so tief wie lange nicht mehr. Doch: Sie sind in Realität noch tiefer.
Das jüngste Zahlen-Chaos des Bundesamts sorgt weitherum für Frust. Innert wenigen Stunden kommentieren Hunderte den Artikel. Und auch Politiker trauen ihren Augen nicht.
FDP-Dobler: «Das BAG wird kreativ...»
«Es stellt sich schon die Frage wie weit sich der Bundesrat vom Volk und dem Parlament entfernt hat.» Dies sagt etwa FDP-Nationalrat Marcel Dobler. Für den St. Galler ist klar: «Weil die Covid-Zahlen stark sinken, wird das BAG kreativ um die zögerlichen Lockerungen zu rechtfertigen.»
Das Ignorieren der Negativ-Tests sei eine «bewusste politische Einflussnahme».
Das Gleiche gelte für den R-Wert, der ebenfalls für Lockerungen herangezogen wird. Hier musste das BAG die von der ETH geschätzte Zahl in den letzten Wochen wiederholt massiv nach unten korrigieren. Trotz täglichem Rückgang der Neuinfektionen wies das BAG Werte von rund 1,00 aus.
Auch heute Freitag korrigierten die Behörden den Wert. Aktuell beträgt er 0,82 für den 9. Februar. Bis gestern lag die jüngste Schätzung zur Verbreitung des Coronavirus noch bei 0,88.
Aufgrund der neusten Fehltritte im BAG sagt Dobler: «Die Organisationsstruktur ist zu überdenken. Offensichtlich gibt es Luft nach oben.»
Oberster Kantonsarzt: «Nur ein Faktor von mehreren»
Rückendeckung erhält das BAG vom obersten Schweizer Kantonsarzt Rudolf Hauri. Die zu hoch berechnete Positivitätsrate sei «nur ein Faktor von mehreren» zur Lagebeurteilung. Hinzu würden Fallzahlen, Inzidenz, Geschwindigkeit der Veränderung der Inzidenz, Hospitalisationszahlen, IPS-Bettenbelegung und Todesfälle kommen.
Dennoch gibt Hauri zu bedenken: «Wenn die Gesamtzahl der durchgeführten Tests nicht mehr abgeschätzt werden kann, dann sinkt die Bedeutung der Positivitätsrate.» Auch würden die Massentests auf das Coronavirus noch in den Kinderschuhen stecken.
Aufgeben will der Kantonsarzt den Messwert aber nicht. Seien die Massentests einmal etabliert, gewinne die Positivitätsrate wieder an Bedeutung. «Sie zeigt nämlich dennoch eine Zu- oder Abnahme des Virusnachweises und damit indirekt der Virusverbreitung an.»