Coronavirus: Schweiz setzt in der Krise auf Betroffenheit
Das Wichtigste in Kürze
- Forscher haben die Entscheidungsfindung von Staaten in der Coronakrise untersucht.
- Die Schweiz setzte wie viele andere Länder auf einmal auf eine Politik von oben.
- Wichtig sind aber auch Vertrauen in die Bevölkerung und Emotionen, zeigt die Analyse.
Karin Ingold ist an der Universität Bern Professorin für Politikanalyse. Sie ist Expertin für politische Netzwerke und hat jüngst den Umgang von Regierungen mit der Corona-Pandemie untersucht. Nau.ch wollte wissen, was sie dabei herausgefunden hat.
Nau.ch: Warum haben Sie zusammen mit neun internationalen Forschungskollegen beschlossen, eine Politik-Analyse zum Coronavirus zu machen?
Prof. Ingold: Das Ziel einer Policy-Analyse ist, politische Entscheide erklären zu können. Normalerweise dauern solche Prozesse zehn Jahre. Bei Covid-19 allerdings dauerte das Ganze nur einen einzigen Monat. Wir wollten also herausfinden, wie die Politikgestaltung und Entscheidungsfindung beim Coronavirus funktioniert.
Nau.ch: Was ist Ihnen beim Umgang der Politik mit der Corona-Pandemie grundsätzlich aufgefallen?
Prof. Ingold: Der erste Hauptunterschied betrifft das Timing: es muss schnell gehen. Gleichzeitig betrafen die Entscheide etwas, das man bisher noch nicht kannte. Wir hatten zwar eine gewisse Erfahrung, weil wir von China wussten, wer etwa zu den Risikogruppen gehörte. Die Entscheide mussten trotzdem sehr kurzfristig und unter Unsicherheit getroffen werden. Diese Unsicherheit wiederum macht es schwierig, die Entscheide gegenüber der Bevölkerung zu begründen.
Nau.ch: Und was ist der zweite Hauptunterschied zu üblichen Politikentscheidungen?
Prof. Ingold: Zwar suchte jedes Land selbst nach Lösungen. Trotzdem werden sich die Länder in Krisensituationen gleicher: alle werden zentralisierter. Entscheide werden von oben nach unten, von einer Stelle gefällt. In der föderalistischen Schweiz haben wir eigentlich wenig Erfahrung mit solchen zentralisierten Top-Down-Entscheiden – im Gegenteil.
Nau.ch: Wie unterscheidet sich die Schweiz dabei von anderen Ländern?
Trotz einem generellen Trend zur Zentralisierung drücken länderspezifischen Entscheidungsformen durch. Im Schweizer Kontext hiess das: es wurde eine «sanfte» Vorgehensweise gewählt. Der Lock-Down wurde schrittweise eingeführt, was auch vom In- wie Ausland teilweise stark kritisiert wurde.
Daniel Koch, der Covid-19-Beauftragte des BAG, sagte es einmal treffend: Man musste in der Schweiz warten, bis die Betroffenheit der Bevölkerung gross genug war, damit einzelne Entscheide der Regierung akzeptiert, und somit auch wirkungsvoll umgesetzt wurden. Die Salamitaktik des Bundesrates machte also Sinn.
Nau.ch: Ist das nur in der Coronakrise so?
Prof. Ingold: Nein, das zeigt sich auch in unserer Forschung: Wenn Menschen betroffen sind, folgen sie eher den Vorgaben der Regierung, als wenn sie den Sinn nicht sehen. Ein wichtiges Element ist auch das Vertrauen in die Bevölkerung, welches zum politischen Entscheidungsstil der Schweiz gehört.
Nau.ch: Neben den Empfehlungen von Fachexperten spielen auch Emotionen eine Rolle für das Regieren. Können Sie erklären inwiefern?
Prof. Ingold: Grundsätzlich unterscheidet man zwischen Emotion und Evidenz. Entscheide werden entweder emotional oder mit Fakten begründet. In Realität ist es dann oft ein Mix aus beiden. Es ist daher auch typisch, dass in praktisch allen Ländern ein Regierungsvertreter und ein Leiter der Gesundheitsbehörde auftreten und die Massnahmen begründen. Während die Fachperson evidenzbasiert argumentiert, kann die Regierung emotional zum Volk sprechen.
Nau.ch: Inwiefern spricht denn der Bundesrat emotionaler als die Fachexperten des Bundes?
Prof. Ingold: Im Allgemeinen hat die Schweiz eine sehr unemotionale und evidenzbasiert Kommunikation. Aber als Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga davon sprach, dass ein «Ruck durchs Land» gehen müsse, appellierte sie an den sozialen Zusammenhalt. Sie zeigt Vertrauen in die Bevölkerung, im Sinne von «wir schaffen das zusammen». Bundesrat Berset sprach von einem Marathon, den man gemeinsam laufe. Auch das baut auf Solidarität.
Nau.ch: Konnten Sie bereits erste Erkenntnisse gewinnen, was künftig verbessert werden sollte?
Prof. Ingold: Trotz dieser sanften Art der Massnahmen, wurde die Überlastung in den Spitälern bislang vermieden. Ein Fazit kann man aber wohl erst Ende Jahr ziehen. Dann wird man sehen, welche Einflüsse auf die Schülerleistung, die Lehrabgänger, die effektiven gesundheitlichen und wirtschaftlichen Kosten entstanden sind.