Coronavirus: Sind Kinder bei Lockerung genug geschützt?
Das Wichtigste in Kürze
- Kinder und Jugendliche werden zur «Zielgruppe» des Coronavirus.
- Die seltenen Fälle mit Komplikationen werden dadurch häufiger.
- Infektiologe Urs Karrer von der Taskforce setzt auf die Impfung – vorab der Erwachsenen.
Kind sollte man sein: Unbeschränkt viele dürfen an einen Restauranttisch sitzen. Bei der Einreise brauchts keinen PCR-Test, keine Quarantäne, nein, 12-Jährige und jünger können direkt aus den Ferien in die Chorprobe. Oder ins Fussballtraining, Sommerlager oder den Judo-Wettkampf, alles ohne Maske und Mindestquadratmeter. Auch an Schulen fällt die Maskenpflicht theoretisch, denn einigen Kantonen geht das zu schnell, in anderen hagelt es Kritik.
Denn gleichzeitig stecken sich nach wie vor knapp 1000 Personen pro Tag mit dem Coronavirus an. Das sind in etwa gleich viele wie während der ersten Welle, wenn auch damals die Dunkelziffer höher gelegen haben dürfte. Anstecken kann sich, wer weder genesenen noch geimpft ist, keine Maske trägt und die Abstände nicht einhält. Hat der Bundesrat also gerade soeben die Kinder zum viralen Freiwild erklärt?
Meistens harmlos: «Kinder sterben extrem selten an Covid»
Diese Milchmädchenrechnung, die zu vielen besorgten bis erbosten Reaktionen in den Sozialen Medien geführt hat, bestätigt Taskforce-Vizepräsident Urs Karrer. «Bei stabilen Fallzahlen steigt das Risiko der Nicht-Geimpften sukzessive. Denn Infektionen finden praktisch ausschliesslich in der immer kleiner werdenden Gruppe der Nicht-Geimpften statt. Um das zu verhindern, sollten wir weiterhin sinkende Fallzahlen anstreben.»
Auch im BAG ist man sich dessen bewusst, bestätigte der Leiter der Sektion Krisenbewältigung, Patrick Mathys letzte Woche. «Das Virus zirkuliert im Moment in diesen Gruppen heftiger als vorher.» Zum Glück seien die Verläufe bei Kindern aber meistens sehr harmlos. Ein Mantra, das auch Gesundheitsminister Alain Berset seit einem Jahr stetig wiederholt.
Dem sei auch nach wie vor so, bestätigt Infektiologe Karrer und stimme wohl zu über 99 Prozent. «Kinder sterben in der Schweiz glücklicherweise extrem selten an Covid, wir hatten jetzt in einem Jahr nur zwei Todesfälle.»
In seltenen Fällen kommt es bei Kindern und Jugendlichen zu Lungenentzündungen und schweren Erkrankungen. Noch seltener sei PIMS, eine lebensgefährliche, durch das Coronavirus ausgelöste Überreaktion des Immunsystems.
Rund 100 Kinder seien in der Schweiz seit Beginn der Pandemie von PIMS betroffen gewesen, schätzt Karrer. Etwa die Hälfte mussten auf einer Intensivstation behandelt werden. «Meistens harmlos» kann im Einzelfall also sehr schwerwiegend sein.
Massnahmen lockern oder Kinder schützen?
Ist es nun fahrlässig, ausgerechnet diejenige Bevölkerungsgruppe von Massnahmen zu befreien, die sich jetzt vermehrt anzustecken droht? Einerseits sei das Risiko von Langzeitfolgen bei Kindern kleiner, betont Karrer.
«Das könnte damit zu tun haben, dass die primären Symptome meist weniger schwer sind. Und dass die natürlichen ‹Reserven› und Kompensationsmechanismen bei Kindern höher sind.» Longcovid gebe es bei Kindern und Jugendlichen, aber wohl weniger häufig als bei Erwachsenen.
Derzeit geht man davon aus, dass 20 bis 25 Prozent der Schulkinder Covid durchgemacht haben, also 250'000 bis 300’000 Kinder. Geimpft sind vernachlässigbar wenige – zu wenige: «Das Virus wird nicht einfach verschwinden», warnt Karrer.
Weitere 60 Prozent aller Kinder mit Coronavirus
Karrer macht eine simple Hochrechnung für das Szenario, falls man jetzt die Kinder nicht schützt und nicht impft. «Dann müssen wir davon ausgehen, dass sich noch einmal weitere 60 Prozent infizieren werden.» In etwa zwei Jahren wäre man dann in Regionen, wo man von Herdenimmunität in der «Herde» der Kinder sprechen könnte. Das hiesse aber auch: Noch einmal 300 bis 400 Kinder, die an PIMS erkranken, 100 bis 200 die auf der Intensivstation landen.
Sollten Kinder und Jugendliche besser vor einer Ansteckung mit Coronavirus geschützt werden?
Das mag nach verhältnismässig wenig klingen, sei es aber nicht, erläutert Karrer. «Weil Covid so viele Kinder betreffen würde, wird auch eine sehr seltene Komplikation wie PIMS genügend häufig, dass sich ein Schutz aufdrängt. Ohne Schutz der Kinder ist zu erwarten, dass PIMS in den kommenden zwei bis drei Jahren deutlich häufiger auftreten würde als zum Beispiel bakterielle Hirnhautentzündungen. Und gegen diese gefährlichen Infektionen wird ein Impfschutz klar empfohlen.»
Unter Infektiologen sei man sich deshalb einig, mahnt Karrer. «Wir sollten auch Kinder durch Impfung vor Covid schützen. Nicht wegen der Herdenimmunität, sondern wegen des Risikos schwerer Erkrankungen. Selbstverständlich müssen die Impfstoffe zuerst in den verschiedenen Altersgruppen genau geprüft und zugelassen werden.»
Erwachsene impfen sich für Kinder
Zwar machte Bundesrat Alain Berset letzte Woche Hoffnung auf Silberstreifen am Impfhorizont. «Wir erwarten eine Zulassung in den Sommermonaten für die RNA-Impfungen für die Gruppen ab 12 Jahren.» Für die Jüngsten gibt es diese Aussicht aber nicht, so Patrick Mathys vom BAG. «Für unter 12jährige sind im Moment noch keine Daten vorhanden, die auf eine baldige Zulassung schliessen lassen.»
Es sei eine Gratwanderung, bestätigt Urs Karrer: Einerseits die Epidemiologie nicht beschleunigen. Andererseits Risiken in Kauf nehmen und normaleres Leben ermöglichen, gerade für Kinder. «Es hilft den Kindern in ihrer Entwicklung enorm, wenn gewisse Massnahmen und Einschränkungen in der Schule und in der Freizeit wegfallen könnten», betont Karrer.
Karrer begrüsst deshalb Begleitmassnahmen, die mit den ersten Lockerungsschritten implementiert wurden. «Ich bin froh, ist meine 11-jährige Tochter in einer Schule, die regelmässig testet. Das kann helfen, Ausbrüche schneller zu entdecken.»
Daneben müssten aber vor allem die Erwachsene dazu beitragen, dass solche Lockerungen zugunsten der Kinder möglich werden. «Solange sich Kinder nicht impfen lassen können, ist der beste Schutz eine möglichst niedrige Viruszirkulation. Das erreichen wir am schnellsten, indem sich möglichst viele Erwachsene impfen lassen.»