Elternorganisationen werfen Kinderärzten Durchseuchung vor
Eltern sind verärgert: «Pädiatrie Schweiz» fördere die Durchseuchung aller Schulkinder – obwohl Fachleute die Argumente der Kinderärzte widerlegt haben.
Das Wichtigste in Kürze
- «Pädiatrie Schweiz» bleibt dabei: An Schulen braucht es nur minimale Corona-Massnahmen.
- Elterorganisationen werfen den Kinderärzten vor, die Durchseuchung der Kinder anzustreben.
- In einem offenen Brief werden Bundesrat, Kantone und BAG jetzt zum Handeln aufgefordert.
Ein Nebeneffekt der Pandemie ist, dass sich Eltern von Schulkindern vernetzen. Das haben sie zwar schon immer getan, nur geht es diesmal nicht um den Kuchen-Stand am Herbstmärit der Klasse 3b. Elternorganisationen, die sich um das Wohl von Schulkindern zu Zeiten der Pandemie sorgen, vernetzen sich landesweit. Und sie sind zunehmend unzufrieden mit dem Schutz vor Viren, der ihren Sprösslingen zuteilwird.
Enttäuscht von Kantonen und Kinderärzten
Zuletzt für Verärgerung sorgten der Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektoren, Lukas Engelberger, und Immunologe Daniel Speiser. Ihre (optimistischen) Pandemie-Prognosen gingen de facto davon aus, dass Kinder durchseucht würden, ärgert sich die Arbeitsgruppe «Kinder schützen – jetzt». Denn das Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit sei gesetzliche und moralische Pflicht.
Dass die Schweizer Pandemiebewältigung auf die Durchseuchung der Kinder hinauslaufe, hat auch der Verband «Pädiatrie Schweiz» schon festgehalten. «Kinder schützen – jetzt» dient dies als Beleg für die falschen Ansätze der Politik. Die Kinderärzte selbst sehen ihre Feststellung aber als Argument, demnach so weiterzufahren wie bisher und möglichst wenig Massnahmen zu verhängen. Das sei kein Widerspruch, sagt Edith Leibundgut von «Kinder schützen – jetzt», und macht ihrem Ärger über die Kinderärzte Luft.
Haltung der Kinderärzte «treibt die Pandemie an»
«Widersprüche in eigener Sache liefert Pädiatrie Schweiz gleich selbst», sagt die Berner Lokalpolitikerin. Vorstandsmitglied Christoph Aebi vermittle den Eindruck, Kinder könnten mit der «relativ harmlosen Delta-Variante» einen Schutz aufbauen. So wären die Kinder in Zukunft vor gefährlichen Varianten geschützt. Dabei, betont Leibundgut: «Pädiatrie Schweiz bedenkt nicht, dass gerade mit der Durchseuchung Mutationen begünstigt werden.»
Für sie ist klar: «Pädiatrie Schweiz strebt damit eindeutig die Durchseuchung an. Dies treibt die Pandemie an.» Das mache kurz vor der absehbaren Zulassung von Impfstoffen für Kinder keinen Sinn.
Bereits gebe es bei Eltern und Grosseltern Impfdurchbrüche, schreibt «Kinder schützen – jetzt!» in einem offenen Brief an Bundesrat, BAG und Kantone. «Im Kanton Bern explodieren in einigen Gemeinden die Fallzahlen. Das bedeutet einmal mehr unnötige Isolation und Quarantäne für viele Kinder.
«Das heisst, die Kinder verteilen das Virus auf der Drehscheibe Schule und tragen die Infektion wiederum ins Elternhaus.» Für Leibundgut ist klar: «Wir starten mit hohem Tempo in einen äusserst schwierigen Winter. » Die Schule als Superspreader mit Breitenwirkung, deren Folgen Pädiatrie Schweiz unmöglich abschätzen könne.
Kranke Kinder, uneinige Experten
Nicht nur könnten Kinder sehr wohl auch schwer erkranken, auch Langzeitfolgen von Long Covid bis zu Hirnschäden machen Leibundgut Sorgen. Ein Vater aus einer anderen Elternorganisation erzählt Nau.ch, er kenne mehrere Familien mit schwer belasteten Kindern. Von den Empfehlungen der Kinderärzte hält er entsprechend wenig: Diese seien fahrig formuliert und schlampig begründet.
Gerne verweisen die Eltern deshalb auf den Artikel von zehn Top-Medizinern im Fachjournal «Swiss Medical Weekly». Gemeinsam sezieren darin Epidemiologen, Psychologen, Pädiater und Virologen die Empfehlungen des Kinderärzte-Verbands. Oder in den Worten des obenerwähnten Vaters: «Die wurden nach Strich und Faden auseinandergenommen.» Leibundgut bleibt sachlicher: «Wir haben erfreut festgestellt, dass unsere Haltung mit den wissenschaftlichen Arbeiten deckungsgleich ist.»
Obwohl selbst Fachleute Mühe bekunden, die Studien-Interpretationen von Verbands-Vorstand Aebi nachzuvollziehen, hält er in der «Berner Zeitung» daran fest. Medizinisch seien Massnahmen an Schulen nicht notwendig gewesen. Zwar seien Quarantäne-Massnahmen für Kinder belastend, deshalb möglichst darauf zu verzichten, halten die Elternorganisationen rund um Leibundgut aber für verkehrt. «Die Krankheit selbst ist die höchste Belastung – die Angst der Kinder um ihre Angehörigen ist nicht von der Hand zu weisen und der Verlust ein Drama.»
Maske, Testen, Lüften und «Grüne Zonen»
Natürlich gibt es auch andere Stimmen besorgter Eltern, die die Maskenpflicht als Belastung und Massentests als Wurzel allen Übels sehen. Diese führten zu unnötigen Quarantänemassnahmen, weil es immer irgendwo ein positives Resultat gebe, findet beispielsweise eine Elternrätin aus Feuerthalen ZH.
Darob mag Edith Leibundgut nur den Kopf schütteln: «Es ist gerade der Sinn der Testung, dass unerkannte Fälle entdeckt werden! Nicht zu testen bedeutet, den Kopf in den Sand zu stecken: ‹Was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss›.» Dank regelmässigen Spuck-Tests will «Kinder schützen – jetzt» hingegen auch Masken-freie Zeiten ermöglichen. Läuft es nämlich zwei Wochen lang gut, darf die Maske runter.
Solche Klassen wären «Grüne Zonen», die Durchmischung von Klassen soll möglichst vermieden werden. Fleissiges Lüften und gegebenenfalls HEPA-Filter sollen auch nach Abklingen der Pandemie sowieso Standard sein. Treten Infektionen auf, kommt die Maske zurück, bis wieder 14 Tage mit ausschliesslich negativen Tests aneinandergereiht werden konnten. Die Umsetzung dieses Konzepts wird nun auch im offenen Brief gefordert: Es sei Zeit, zu handeln.
Sind Kinder die besseren Erwachsenen?
Dass viele Eltern es ablehnen, ihren Kindern den Test-Stress zuzumuten, weiss auch Leibundgut, sieht darin aber kein Hindernis. «Wer nicht mitmacht und nicht testet, trägt weiterhin Maske. Das ist eine Frage des Respekts, dies können schon kleine Kinder lernen und verstehen.» Da scheinen Kinder den Erwachsenen punkto Konfliktmanagement aber einiges vorauszuhaben.
Leibundgut kehrt den Spiess um und macht aus der Belastung eine positive Herausforderung. «Für die Klasse wird der gemeinsame Weg so zum gemeinsamen Ziel, begleitet von gegenseitiger Rücksichtnahme und Umsicht.» Anders verhalte es sich mit der von «Pädiatrie Schweiz» empfohlenen Strategie, Massentests, Maskenobligatorien und Quarantäneverfügungen auf ein Minimum zu reduzieren. Auch wenn Edith Leibundgut einräumt: «Hart segeln am Wind mag auf See eine sportliche Herausforderung sein.»
Wen es um Gesundheit und Menschenleben gehe, passe dies aber nicht; denn die angestrebte Durchseuchung der Kinder sei doppelt riskant. «Mit der Durchseuchung wächst die Mutationswahrscheinlichkeit und damit das Risiko, dass wir immer wieder von vorne beginnen müssen.» Im schlimmsten Fall provoziere «Pädiatrie Schweiz» so eine «never ending story». Mit Folgen für den Kinderärzteverband selbst, glaubt Leibundgut: «Mit dem unwissenschaftlichen Schnellschuss der Durchseuchung hat sich ‹Pädiatrie Schweiz› selbst disqualifiziert.»