Frauenstimmrecht: «Ohne Druck von der Strasse passiert gar nichts»
Das Wichtigste in Kürze
- Christine Goll war lange im Nationalrat und galt als «feministisches Aushängeschild».
- Die heute 64-Jährige ist immer noch feministisch gesinnt.
- Im Interview zum 50-jährigen Jubiläum erzählt sie von Frauenquoten und Feminismus.
Am 7. Februar 2021 feiert die Schweiz 50 Jahre Frauenstimmrecht. Seither dürfen Frauen abstimmen, wählen, sich wählen lassen, kurz: Sie gestalten die Schweiz politisch mit. Zum Jubiläum hat Nau.ch Frauen interviewt, die genau das machen.
Christine Goll sass 20 Jahre lang im Nationalrat, zunächst für «Frauen macht Politik!». Dann wechselte sie in die Sozialdemokratische Partei, in welcher sie noch heute aktiv ist.
Nau.ch: Sie waren am 7. Februar 1971 13 Jahre alt. Haben Sie Erinnerungen an diesen Tag?
Christine Goll: Mein Vater, der ja allein das Stimmrecht hatte, hat mich als Kind oft zur Urne mitgenommen, als er abstimmen ging. Damals ging man immer ins Abstimmungslokal. Für meinen Vater war es absolut selbstverständlich, dass er Ja zum Frauenstimmrecht sagt.
Ich habe damals schon gefunden, eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit, wenn die Schweiz sich wegen ihrer Demokratie rühmt. Sie ist aber nie eine Demokratie gewesen, solange es kein Frauenstimm- und Wahlrecht gab.
Von dem Moment an, wo ich wählen und abstimmen konnte, habe ich das immer gemacht. Ich bin meinen Vorkämpferinnen natürlich unendlich dankbar, dass sie die politische Mitbestimmung von Frauen durchgesetzt haben.
Nau.ch: Hatten sie auch mal mit Gegnerinnen und Gegnern des Frauenstimmrechts zu tun?
Christine Goll: Ich kann mich nicht mehr erinnern, weil ich damals doch sehr jung war. Als ich das später nachverfolgt habe, habe ich zum Teil Lachanfälle bekommen, als ich sah und hörte, was Männer für Argumente gegen die demokratische Teilhabe von Frauen hatten.
Woran ich mich auch erinnern kann, ist, als Appenzell Innerrhoden am Schluss quasi gezwungen werden musste, sich an die Verfassung zu halten. Das habe ich als absolute Folklore empfunden. Und auch als Affront gegenüber allen Frauen.
Nau.ch: Sie galten lange auch als «feministisches Aushängeschild». Was ist ihr Verständnis von Feminismus?
Christine Goll: Ich bin immer noch Feministin. Für mich bedeutet das konkret, dass wie alle Lebens- und Arbeitsbereiche von Frauen immer in Bezug auf Chancengleichheit und Gleichstellung überprüfen müssen.
Nau.ch: Hat sich dieses Verständnis des Feminismus verändert beziehungsweise weiterentwickelt?
Christine Goll: Es gibt insofern sicher eine Weiterentwicklung, als in den letzten Jahrzehnten, seit der Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts, neue, auch gesellschaftspolitische Fragen aufgekommen sind, wo Frauen ganz klar ihre Rechte einfordern. Die Frauenbewegung braucht es weiterhin. Durchsetzen müssen wir insbesondere gleiche Löhne für Frauen und Männer und damit auch soziale Gerechtigkeit für alle.
Denn meine Erfahrung ist: Ohne Druck von aussen, von der Strasse, ohne Druck von den Frauen, die nicht in die politischen Institutionen eingebunden sind, passiert in der schweizerischen Politik gar nichts.
Ich erinnere an den Frauenstreik von 1991, der dazu geführt hat, dass wir überhaupt erstmals ein Gleichstellungsgesetz verankern konnten. Oder ich erinnere an den letzten Frauenstreik 2019. Der zeigte unter anderem auf, wo es überall noch Baustellen gibt und wo es Gleichberechtigung braucht und dass die Frauen weiterkämpfen werden. Gefreut hat mich insbesondere die Beteiligung der zahlreichen jungen Frauen. Der Streik hat bei den Nationalratswahlen im Herbst darauf einen Schub gebracht. Heute sind im Nationalrat 42 Prozent der Sitze von Frauen besetzt.
Natürlich ist die Chancengleichheit damit noch nicht erreicht. Das wäre sie erst bei einem Frauenanteil von 50 Prozent. Aber der Frauenstreik hat doch viele Wählerinnen mobilisiert, primär Frauen auf ihre Wahlliste zu setzen.
Nau.ch: Politisieren Frauen anders als Männer?
Christine Goll: Ich glaube nicht, dass Frauen grundsätzlich anders politisieren. Aber ich habe immer wieder festgestellt, dass Frauen aufgrund ihrer Biografie in bestimmten gesellschafts- und sozialpolitischen Fragen anders entscheiden. Ich habe auch während meiner parlamentarischen Arbeit die Erfahrung gemacht, dass es über Parteigrenzen hinweg oft gelungen ist, mit Frauen Allianzen zu bilden.
Gerade bei Gleichstellungsanliegen war es immer möglich, mit Frauen aus bürgerlichen Parteien zusammenzuarbeiten. Das hat sicher damit zu tun, dass auch bürgerliche Frauen immer wieder die Erfahrung gemacht haben und die Erfahrung machen, dass die Gleichstellung und Chancengleichheit noch nicht auf allen Ebenen verwirklicht ist.
Nau.ch: Bekommen also bürgerliche Frauen Benachteiligung mehr zu spüren als linke oder grüne Frauen?
Christine Goll: Wenn man die Parteienlandschaft anschaut, dann kann man ganz klar sagen, dass linke und grüne Parteien ein viel grösseres Sensorium entwickelt haben und viel früher damit angefangen haben, Frauen aktiv zuvorderst auf ihre Listen zu setzen. Nur auf Spitzenplätzen haben Frauen überhaupt eine Chance, gewählt zu werden. Weit über die Hälfte der SP-Mitglieder im Nationalrat sind heute Frauen. Der Frauenanteil bei den bürgerlichen Parteien in der Politik ist wesentlich geringer.
Nau.ch: Braucht die Bundesversammlung eine 50-Prozent-Frauenquote?
Christine Goll: Ich bin eine Befürworterin von Frauenquoten, um eine echte Chancengleichheit in allen gesellschaftlichen Bereichen zu verwirklichen. Auch die SP oder die Gewerkschaften haben Quotenregelungen mit Erfolg umgesetzt.
Wenn wir eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in politischen Ämtern und Funktionen, in der Wissenschaft oder in Führungspositionen der Wirtschaft wirklich durchbringen wollen, dann braucht es in meinen Augen Quotenregelungen.
Nau.ch: Manche sehen in der Schweiz erst eine «echte» Demokratie, wenn auch Ausländerinnen oder 16-Jährige wählen und abstimmen dürfen. Wie stehen Sie dazu?
Christine Goll: In der Schweiz gibt es ja schon in einzelnen Gemeinden und Kantonen Mitbestimmungsregelungen für Jugendliche unter 18 Jahren oder Menschen ohne Schweizer Pass. Ich bin sehr dafür, denn das stärkt unsere Demokratie. Es gibt ja die erfreuliche Nachricht aus dem Ständerat, dass dieser nach dem Nationalrat, sich nun auch für das Stimmrechtsalter 16 Jahre ausgesprochen hat. Das Wahl- und Stimmrecht für Migrantinnen und Migranten hat es auf Bundesebene schwieriger. Aber auch diese Menschen brauchen es eine demokratische Teilhabe, denn sie wohnen, teilweise sogar seit Geburt, und arbeiten in der Schweiz, zahlen Steuern zahlen und engagieren sich für unsere Gemeinschaft. Deshalb müssen sie auch ein Mitbestimmungsrecht haben.
Nau.ch: Sind Sie für die nächsten 50 Jahre optimistisch?
Christine Goll: Der 50. Jahrestag zum Frauenstimm- und Wahlrecht ist kein Grund zum Jubeln und Ausruhen. Frauen und Männer müssen sich auch weiterhin für Gleichstellung in allen Lebensbereichen einsetzen. Wir müssen endlich die Lohndiskriminierung überwinden und existenzsichernde AHV-Renten für alle durchsetzen. Die Erwerbssituation wirkt sich auf die Altersvorsorge aus und führt dazu, dass Frauen ein Drittel weniger Rente erhalten als Männer.
Und dies, obwohl Frauen grossmehrheitlich die unbezahlte Arbeit im Privaten, wie Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen, übernehmen. Ohne diese Arbeit, die einen Wert von 248 Milliarden Franken pro Jahr hat, würde unsere Gesellschaft gar nicht funktionieren. Die von den Herren Ständeräten soeben beschlossenen AHV-Rentenkürzungen auf dem Rücken der Frauen sind beschämend. Dagegen werden wir auf die Barrikaden steigen müssen.