Kabelaufklärung: Überwacht uns der Geheimdienst systematisch?
Digital-Aktivisten kämpfen gegen die Kabelaufklärung, seit 2017 Praxis beim Nachrichtendienst. Doch dieser verteidigt sich. Ist es Massenüberwachung?
Das Wichtigste in Kürze
- Es läuft eine Debatte über Massenüberwachung durch den Geheimdienst durch Kabelaufklärung.
- Aktivisten warnen, auch harmlose Daten könnten vom Bund gesammelt und gespeichert werden.
- Der NDB verteidigt die Kabelaufklärung als notwendiges Mittel zur nationalen Sicherheit.
Die Frage der Massenüberwachung bewegt, macht emotional. Erik Schönenberger und Christian Dussey stehen sich in dieser Debatte gegenüber. Schönenberger, Aktivist für digitale Rechte, bezeichnet das Vorgehen des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) als «Programm zur Massenüberwachung der Bevölkerung». NDB-Chef Dussey sieht es als notwendiges Mittel zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit.
Seit 2017 darf der NDB Datenverkehr aus Glasfaserkabeln ableiten und analysieren – eine Praxis, die als Kabelaufklärung bekannt ist. Dies wurde durch ein neues Nachrichtendienstgesetz ermöglicht, das von zwei Dritteln des Stimmvolks gebilligt wurde. Die Geheimdienste zapfen Glasfaserkabeln an beim Internetanbieter und der Dienst für Cyber- und elektromagnetische Aktionen (CEA) filtert die gigantischen Datenmengen.
Schönenberger äussert jedoch gegenüber der «Tamedia»-Zeitungen Bedenken: «Mich beunruhigt – und das ist wissenschaftlich gut belegt – dass du dein Verhalten veränderst, wenn du dich beobachtet fühlst. Selbst wenn du nicht genau weisst wie». Er warnt auch vor sogenannten «false positives», bei denen Unschuldige irrtümlich ins Visier der Nachrichtendienste geraten können.
Kritik an der Kabelaufklärung
Christian Dussey hingegen verteidigt energisch die Notwendigkeit der Kabelaufklärung. Er wurde vom Bundesrat im Jahr 2022 zur Spitze des NDB ernannt und brachte eine klare Vision mit: den Ausbau dieser Überwachungsmethode.
«Glauben Sie wirklich, dass wir in einem totalitären Staat leben, in dem der Nachrichtendienst die Kommunikation aller Bürger ausspioniert?», fragt Dussey in seiner ersten öffentlichen Reaktion auf Schönenbergers Kritik. Er betont auch die strenge Kontrolle, unter der der NDB steht und stellt klar: «Der NDB betrachtet nicht jeden Schweizer Bürger als potenziellen Terroristen, Spion oder gewaltbereiten Extremisten».
Dussey argumentiert weiterhin, die Kabelaufklärung sei ein gesetzlich konformes Mittel zur Informationsbeschaffung über Ereignisse im Ausland. Ausserdem werde sie regelmässig extern kontrolliert.
Die Realität hinter den Kulissen
Trotz dieser Kontrollen gibt es Bedenken hinsichtlich des Umfangs und der Art und Weise, wie Daten gesammelt werden. Fredy Künzler ist Gründer des Telekommunikationsunternehmens «Init7» und einer von wenigen in der Branche, die offen über diese Überwachungspraktiken sprechen.
Das CEA darf nur Datenverkehr auswerten, der die Schweizer Grenzen überschreitet. Wenn sich Empfänger und Sender der Daten in der Schweiz befinden, dürfen die Signale nicht benutzt werden. Besagt das Gesetz in der Theorie.
Fredy Küzler erklärt aber: «Das Internet ist kein statisches Gebilde; es ist global organisiert und kennt keine Grenzen zwischen Ländern». Verschickt jemand etwa eine Mail mit einer Gmail-Adresse, gilt das schon als internationaler Datenverkehr. Weil dafür die internationale Google-Infrastruktur benützt wird.
Der Bund kann also harmlose E-Mails von einer Schweizerin zu einem anderen Schweizer sammeln und auswerten. Genau das bezeichnet Erik Schönenberger als Massenüberwachung. Dagegen hat die Digitale Gesellschaft zusammen mit Medienschaffenden und Anwälten beim Bundesverwaltungsgericht geklagt.
Die Kontrolle der Daten
NDB-Chef Dussey betont jedoch, dass die Analysten des NDB nicht einfach im gesammelten Datenverkehr herumschnüffeln dürfen. Die Kabelaufklärung dürfe gesetzlich nur bei Terrorverdacht oder zur Abwehr von Spionage nutzen. Zudem gebe es formale Beschränkungen: Jeder Überwachungsauftrag muss zuerst vom Bundesverwaltungsgericht genehmigt und von der VBS-Vorsteherin freigegeben werden. Sie muss wiederum die EDA- und EJPD-Vorsteher konsultieren.
Trotz dieser Kontrollen bleibt die Frage offen: Ist das umstrittene System überhaupt lohnenswert? Wie Berichte des Nachrichtendienstes zeigen, gibt es nur wenige solche Aufträge. 2022 und 2021 gab es drei, in den beiden Jahren zuvor zwei und 2018 nur einen.
Christian Dussey ist von der Technik aber überzeugt: «Es ist unerlässlich, dass unser Land diese Art der Informationsbeschaffung ausbaut, um nicht von anderen Staaten abhängig zu sein». Auch Stefan Müller-Altermatt, Mitte-Nationalrat und Präsident der NDB-Aufsicht, warnt: «Ohne die Kabelaufklärung wäre der NDB in gewissen Bereichen zunehmend taub und blind.»
Doch Erik Schönenberger bleibt standhaft in seiner Ablehnung: «Der Nutzen ist viel zu klein. Und er heiligt auch nicht die Mittel». Er und seine Mitstreiter planen, weiterhin gegen die Kabelaufklärung vor Gericht zu kämpfen. Wenn nötig, sogar bis vor den Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg.