Kaperten wirklich Rechtsextreme die Bauern-Proteste?
Gemäss dem deutschen Wirtschaftsminister Robert Habeck wurden die Bauern-Proteste von Extremisten gekapert. Was ist dran an den Vorwürfen des Grünen-Politikers?
Das Wichtigste in Kürze
- Gemäss Robert Habeck wurden die Bauern-Proteste in Deutschland von Extremisten gekapert.
- Experte Dirk Baier erklärt: Der tatsächliche Einfluss dieser Gruppen sei kaum abschätzbar.
- Ihre Anwesenheit zeige in erster Linie das grosse Mobilisierungspotenzial dieser Gruppen.
- Deshalb gänzlich auf Demonstrationen zu verzichten, sei trotzdem nicht der richtige Weg.
In ganz Deutschland blockieren derzeit Bauern den Verkehr – Spediteure, Fischer und Selbstständige haben sich mit den Landwirten solidarisiert: Die Unzufriedenheit mit der Politik der Ampel-Regierung verbindet weit über die Parteigrenzen hinaus.
Vereinzelt sind an den Bauern-Protesten – ähnlich wie bereits an Corona-Demonstrationen – allerdings auch Extremisten zugegen: In einer Videobotschaft behauptet Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) deshalb, die Bauern-Proteste seien «von Extremisten gekapert» worden.
Robert Habeck erhebt schwerwiegende Vorwürfe
Während seiner gut achtminütigen Botschaft erhebt Robert Habeck schwere Anschuldigungen: An den Bauern-Protesten kursierten «Umsturzfantasien». «Völkisch-nationalistische Symbole» – also Hitler-Gruss oder Reichsadler – würden offen zur Schau gestellt.
Doch hat der Wirtschaftsminister mit seinen Anschuldigungen recht? Wurden die Bauern-Proteste in Deutschland von Extremisten gekapert oder diffamiert der Grüne legitimen Protest gegen seine Politik als Staatsfeindlichkeit? Nau.ch hat bei Extremismusexperte Dirk Baier um eine Einschätzung gebeten.
Mangelnde Distanzierung
Der Extremismusexperte erklärt: Bereits im Vorfeld der Bauern-Proteste hätten sich die Anzeichen verdichtet, dass Rechte auf den Zug aufspringen würden. Im Fahrwasser dieser Vorzeichen habe sich auch der Deutsche Bauernverband distanzierend geäussert. «Im Nachhinein kann man sicher feststellen, dass diese Statements nicht ausgereicht haben, um Rechte auf Distanz zu halten.»
Zugleich ist Baier überzeugt, dass dies nur hätte verhindert werden können, wenn der gesamte Bauern-Protest abgesagt worden wäre. Die gegenwärtige Situation in Deutschland sei keine einfache. «Deutlich wird, dass rechte und rechtsextreme Gruppierungen keine Gelegenheit auslassen, um ihre Positionen kundzutun.»
Demonstrationen stellten ein wichtiges Element von Demokratien dar – sie dienten dazu, die Forderungen von Interessensgruppen zu artikulieren. Gleichzeitig gebe es die permanente Drohung, dass Rechte solche Protestaktionen kapern würden. Für Baier steht dennoch fest: «Deswegen ganz auf das Demonstrieren zu verzichten, wäre der falsche Weg!»
Grosses Mobilisierungspotenzial
Wie gross der tatsächliche Einfluss rechter und rechtsextremer Gruppierungen innerhalb der Bauern-Proteste ist, sei hingegen schwierig abzuschätzen. Darüber hinaus dürfte es hier grosse regionale Unterschiede geben, so der Experte.
«Man kann die Bauern-Proteste nicht als Aufstand von Wutbürgern, Querdenkern oder Rechtsextremen umdeuten, auch wenn diese Personengruppen dabei waren», sagt Baier. Gleichzeitig wäre auch die Rede von Einzelfällen nicht korrekt – dafür sei die Beteiligung zu gross gewesen, erklärt Baier weiter.
Was die Ereignisse von gestern primär verdeutlichten, sei das Mobilisierungspotenzial dieser Gruppen: Über die sozialen Medien könnten sie Zehntausende erreichen und brächten wenigstens einen Teil der Erreichten tatsächlich auf die Strasse.
Was ist also dran an der Behauptung, dass Rechtsextreme die Bauern-Proteste kaperten? Baier erklärt: «Wir haben gestern keinen ‹Aufstand der Rechten› gesehen. Wir haben aber gesehen, dass diese Gruppierungen an Themen andocken, die erstmal nichts mit rechtsextremen Haltungen zu tun haben. Auch legitime Proteste werden von Rechten genutzt, um illegitime Positionen sichtbar zu machen.» Dies müssten Organisatoren von Demonstrationen künftig noch viel stärker beachten.
Drei Gründe für Beteiligung
Dies sei auch im Interesse der Veranstalter der Bauern-Proteste: «Ich würde behaupten, dass sich die Rechten überhaupt nicht für die Sorgen der demonstrierenden Landwirte interessieren.»
Gemäss Baier erschliesse sich die Beteiligung der fraglichen Gruppierungen aus drei unterschiedlichen Gründen: Erstens gehe es darum, gegen die amtierende Regierung – «insbesondere die Grünen als Hauptfeindbild» – zu mobilisieren.
Zweitens sollte der Eindruck erweckt werden, dass die wichtige Berufsgruppe der Landwirte als Teil der rechten Bewegung zu verstehen sei. Drittens hätten sicherlich einige Exponenten tatsächlich die Absicht gehabt, Demonstrierende für ihre eigenen Absichten zu rekrutieren: «Also Bauern für rechtsextreme Gruppen zu gewinnen», erklärt Baier.