Neuer Premier Starmer: Grossbritannien braucht einen Neustart

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Grossbritannien hat mit Keir Starmer (61) erstmals seit über einem Jahrzehnt wieder einen sozialdemokratischen Premierminister. Dieser warb um einen Neustart.

Grossbritannien 100 Tage
Keir Starmer ist 100 Tage Premierminister in Grossbritannien. - keystone

Grossbritannien hat erstmals seit mehr als einem Jahrzehnt wieder einen sozialdemokratischen Premierminister. Keir Starmer (61), dessen Labour-Partei die Parlamentswahl deutlich gewonnen hat, warb für einen Neustart. «Unsere Arbeit ist dringend und wir beginnen heute damit», sagte er bei seinem ersten Auftritt in der Londoner Downing Street. Er gestand aber auch ein, dass sich dies nicht kurzfristig erreichen lasse und zeigte Verständnis für Politikverdrossenheit im Land.

Ein Land zu verändern, sei nicht vergleichbar mit dem Umlegen eines Schalters. «Das wird etwas dauern», sagte Starmer, nachdem ihn König Charles III. mit der Regierungsbildung beauftragt hatte. Mit seiner Partei löst er nach 14 Jahren die Konservativen des bisherigen Regierungschefs Rishi Sunak ab, die vor einem Scherbenhaufen stehen.

Starmer ist der erste Premierminister von Labour seit Gordon Brown und Tony Blair. Seine Partei kommt nach Auszählung fast aller Wahlkreise auf mindestens 412 von 650 Sitzen im Unterhaus (House of Commons). Bei der Wahl 2019 hatte die Partei bloss 202 Mandate geholt. Die Konservativen brechen von bisher 365 auf etwa 120 Sitze ein – dabei wurden so viele Kabinettsmitglieder abgewählt wie nie.

Wie ein Wahlforscher den Umbruch erklärt

Den Wahlsieg verdankt Labour vor allem der schwindenden Unterstützung für die konservativen Tories. Der Anteil an Wählerstimmen für Labour betrug nach bisherigem Stand gerade einmal 34 Prozent. Dass es trotzdem zu einer satten Mehrheit an Sitzen im Unterhaus reichte, liegt vor allem am britischen Mehrheitswahlrecht, bei der in jedem Wahlkreis nur der Kandidat oder die Kandidatin mit den meisten Stimmen ins Parlament einzieht.

Meinungsforscher John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow erklärte das Wahlergebnis nicht in erster Linie mit Begeisterung für Labour, sondern mit Verdruss über die bisherige Regierung. Sunak war bereits der dritte Regierungschef seiner Partei in der vergangenen Legislaturperiode, die von wirtschaftlicher Stagnation, zahlreichen Skandalen und stark steigenden Lebenshaltungskosten geprägt war. Sunak hatte im Oktober 2022 von der damaligen Regierungschefin Liz Truss übernommen, die nach nur 49 Tagen im Amt zurückgetreten war und nun auch ihren Sitz im Unterhaus verliert.

Britische Konservative stehen vor einem Scherbenhaufen

Für Sunaks Konservative gleicht die Wahl einem Albtraum: «Erdrutsch» und «Massaker» lauten einige Schlagzeilen der britischen Presse. Sunak kündigte seinen Rücktritt als Parteichef an. Er wolle den Posten abgeben, sobald die formalen Regelungen für die Nachfolge geklärt seien, sagte er. «Dem Land möchte ich zuallererst sagen: Es tut mir leid.»

Bei den Konservativen stellt sich nun die Frage, wer die Partei und damit die Opposition im Londoner Parlament anführen soll. Als Kandidatin galt Penny Mordaunt, die auch bekannt dafür ist, bei Charles' Krönung ein Schwert getragen zu haben. Die bisherige Ministerin für Parlamentsfragen verpasste allerdings den Einzug ins Parlament.

Interesse nachgesagt wird auch der bisherigen Handelsministerin Kemi Badenoch und der früheren Innenministerin Suella Braverman, die beide noch weiter rechts stehen. Als moderatere potenzielle Kandidaten gelten der bisherige Innenminister James Cleverly und der bisherige Staatssekretär Tom Tugendhat. Auf die Frage, ob er sich bewerben wolle, antwortete Cleverly dem Sender Sky News eher ausweichend.

Rechtspopulist Farage macht Kampfansage

Mandate verloren haben die Konservativen wohl nicht nur an Labour. Die Liberaldemokraten konnten deutliche Zugewinne verbuchen. Die schottische Nationalpartei SNP dagegen verlor bei der Parlamentswahl. Etliche Stimmen gehen auch an die rechtspopulistische Partei Reform UK.

Deren Vorsitzender Nigel Farage, der einst den Brexit massgeblich vorangetrieben hatte, schafft es im achten Anlauf erstmals ins Unterhaus. Seine Partei dürfte die Tories weiter unter Druck setzen. Farage sprach bei der Plattform X bereits vom «Ende der Konservativen Partei, wie wir sie kennen».

Viele Briten haben genug von den Problemen

Auf den neuen Premier kommen etliche Herausforderungen zu – etwa die Überlastung des staatlichen Gesundheitsdiensts NHS, Probleme in der Wohnungspolitik oder die Frage, wie das Land mit Einwanderung umgehen will. Kippen dürfte Starmer den Plan der bisherigen Regierung, irreguläre Migranten ungeachtet ihrer Herkunft nach Ruanda abzuschieben. Eine Rückkehr seines Landes in die EU hat er ausgeschlossen.

Grosse Begeisterung löst der als langweilig geltende Politiker bei den Briten nicht aus. In vielen Politikbereichen blieb er vage. Die Parteiführung hatte Starmer von dem Alt-Linken Jeremy Corbyn übernommen, dem vorgeworfen wurde, nicht genug gegen Antisemitismus in seiner Partei zu tun.

Starmer seine bürgerliche Herkunft betont

Starmer ging dagegen vor und führte die Partei zurück in die politische Mitte. Der Krieg im Gazastreifen führte allerdings in seiner Partei, die traditionell den Palästinensern nahesteht, immer wieder zu Spannungen. Im Wahlkampf hatte Starmer seine bürgerliche Herkunft betont – sein Vater sei Werkzeugmacher und seine Mutter Krankenschwester gewesen.

Weil seine Mutter schwer krank war, übernahm Starmer schon früh Verantwortung in der Familie, wie sein Biograf Tom Baldwin schreibt. Starmer ist Anhänger des Londoner Fussballvereins FC Arsenal und will auch selbst noch ab und an auf dem Fussballplatz stehen. Die Freitagabende will er sich weiterhin möglichst für Ehefrau Victoria und seine beiden Kinder im Teenageralter freihalten.

Kommentare

User #6127 (nicht angemeldet)

Deutschland und Frankreich brauchen auch einen Neustart.

User #1262 (nicht angemeldet)

Logisch. Die Konservativen haben ja Grossbritannien während 14 Jahren komplett an die Wand gefahren.

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