Ringen um den No-Deal-Brexit: Johnson in der Sackgasse?
Johnsons Strategie des maximalen Drucks auf seine Gegner ist zum Bumerang geworden. Die Gegner eines No-Deal-Brexits haben den Spiess umgedreht. Nun ist er es, dem die Zeit davonläuft. In Brüssel beobachtet man das Geschehen mit Staunen.
Das Wichtigste in Kürze
- Als Boris Johnson in dieser Woche eine Brexit-Abstimmung im Parlament nach der anderen verlor, wollte der eine oder andere Beobachter Anzeichen der Genugtuung in Theresa Mays Gesicht wahrgenommen haben.
Johnsons Vorgängerin wurde oft als glückloseste Premierministerin der jüngeren Geschichte Grossbritanniens bezeichnet. Doch es könnte gut sein, dass ihr Johnson den Rang abläuft.
Der Regierungschef fährt einen beispiellos rücksichtslosen Kurs in Sachen EU-Austritt und scheut sich dabei nicht, Brücken einzureissen und mit Konventionen zu brechen. Die ungewöhnlich lange Zwangspause, die er dem Parlament verordnete, war nur der Auftakt. Als sich Abgeordnete aus seiner Tory-Fraktion gegen Johnsons Kurs hin zu einem ungeregelten No-Deal-Brexit stellten, warf er sie kurzerhand aus der Fraktion. Sie dürfen damit nicht wieder für die Konservativen bei einer Wahl antreten. Doch es gibt immer mehr Anzeichen, dass sich Johnson mit diesem harschen Vorgehen verschätzt hat.
Unter den Geschassten sind einige Urgesteine der Tory-Partei, zum Beispiel Ken Clarke. Der 79-Jährige gehörte in verschiedenen Funktionen den Kabinetten von Margaret Thatcher, John Major und David Cameron an. Zeitweise war er Finanzminister. Als dienstältester Abgeordneter wird er als «Father of the House» bezeichnet. Clarke ist aber auch ein glühender Europäer und beeindruckender Redner von beinahe churchillhaftem Format, der über Parteigrenzen hinweg grossen Respekt geniesst. Dass er, genau wie der Enkel von Kriegspremier Winston Churchill, Nicholas Soames, von dem Churchill-Verehrer Boris Johnson nun davongejagt wurden, ist aus Sicht vieler Abgeordneter an Absurdität kaum zu überbieten.
In der Tory-Partei brodelt es nun. Boris Johnsons eigener Bruder, Jo Johnson, der ebenfalls seit vielen Jahren Politik für die Tories macht, warf am Donnerstag hin. «Ich war in den vergangenen Wochen zerrissen zwischen Loyalität zur Familie und dem nationalen Interesse - es ist eine unauflösbare Spannung», schrieb er. Ex-Vizepremier Damian Green rief Johnson im Namen der etwa hundertköpfigen One-Nation-Tory-Gruppe gemässigter konservativer Abgeordneter dazu auf, den Rauswurf der Rebellen rückgängig zu machen und bezichtigte Johnson, eine «Säuberung» durchzuführen.
Doch nicht nur innerhalb der Partei, auch im Machtkampf mit der Opposition scheint sich Johnson verspekuliert zu haben. Die umstrittene Zwangspause des Parlaments konnte die Abgeordneten nicht davon abhalten, ein Gesetz durchs Unterhaus zu peitschen, das den Premierminister zur Brexit-Verschiebung zwingt, sollte nicht rechtzeitig ein Abkommen ratifiziert sein. Den aussichtslosen Versuch, das Gesetz mit Dauerreden (Filibuster) bei den Lords im Oberhaus tot zu schwafeln, musste die Regierung in der Nacht zum Donnerstag aufgeben.
Nun ist es Johnson, der unter Zeitdruck steht. Nach dem Rauswurf der Rebellen braucht er mehr denn je eine Neuwahl. Doch die kann ihm nur das Parlament gewähren, das er spätestens am kommenden Donnerstag in die Zwangspause schicken will. Nach der vierwöchigen Parlamentspause wäre es zu spät, um einer Verlängerung der Brexit-Frist zu entgehen, denn es müssen 25 Werktage zwischen der Auflösung des Parlaments und einer Wahl liegen. Johnson hätte damit sein wichtigstes Wahlversprechen bereits gebrochen, das Land «komme, was wolle» am 31. Oktober aus der EU zu führen. Er müsste damit rechnen, massenhaft Wählerstimmen an die Brexit-Partei von Nigel Farage zu verlieren.
Doch Johnson wird den Zeitpunkt einer Neuwahl nicht mehr bestimmen können. Will er den Urnengang direkt per einfachem Parlamentsbeschluss auslösen, benötigt er eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten. Dafür braucht er die Unterstützung von Labour-Chef Jeremy Corbyn, den er am Mittwoch noch als «Chlorhühnchen» verspottet hatte. Der wird sich sehr gut überlegen, wann für ihn der beste Zeitpunkt für eine Wahl ist. Auch Parlamentspräsident John Bercow könnte Johnsons Pläne durchkreuzen, denn eine jahrhundertealte Regel des Parlaments besagt, dass derselbe Antrag nicht zwei Mal innerhalb einer Sitzungsphase gestellt werden darf. Johnson Antrag auf eine Neuwahl wurde am Mittwoch bereits abgeschmettert.
Die beiden anderen Wege zur Neuwahl führen über einen Misstrauensantrag in die eigene Regierung oder eine Gesetzesänderung. Doch beide haben ihre Tücken. Stellt Johnson am Montag die Vertrauensfrage und verliert, löst er eine 14-tägige Frist aus, in der eine alternative Regierung gebildet werden kann. Die No-Deal-Gegner könnten sich auf einen Interimspremier, beispielsweise Ken Clarke einigen, und versuchen, den Brexit-Schlamassel selber zu lösen. Johnson könnte auch versuchen, ein massgeschneidertes Gesetz für seine Wahl zu verabschieden. Doch dafür braucht er eine Mehrheit, die bislang nicht in Sicht ist. Es sieht so aus, als habe sich Johnson in Rekordzeit in eine Sackgasse manövriert, aus der es keinen leichten Ausweg gibt.
Für Brüssel ist die Zuspitzung in London nicht ohne Fallstricke. Die Devise lautet: Nur nicht einmischen und kein Öl ins Feuer giessen in der überhitzten Debatte. Deshalb gleichen alle offiziellen Stellungnahme einem Eiertanz. Das sei ja alles im Moment noch hypothetisch, sagte die Chefsprecherin der EU-Kommission, Mina Andreeva, zum Beispiel am Donnerstag auf die Frage nach der vom Unterhaus gewünschten Verlängerung der Brexit-Frist bis Ende Januar.
Noch gebe es keinen Antrag. «Eine solche Anfrage müsste natürlich einen guten Grund nennen», sagte Andreeva. «Was ein solcher Grund sein könnte, falls er mal genannt wird, und wie er bewertet wird - darüber können wir sprechen, sobald es soweit ist.» Wäre eine Neuwahl ein guter Grund? Darüber wolle sie nicht spekulieren. Könnte die Fristverlängerung daran scheitern, dass Grossbritannien niemanden für die neue EU-Kommission nominiert hat, die am 1. November startet? Keine Antwort.
Inoffiziell reden EU-Diplomaten etwas offener, und demnach lässt sich folgendes schliessen: Bittet Grossbritannien tatsächlich noch einmal um Fristverlängerung, stehen die Chancen gut. Die EU will nicht den Schwarzen Peter für einen chaotischen Bruch. Das gilt auch bei den von Johnson verlangten Änderungen am Austrittsabkommen, nur ist da der Spielraum denkbar gering. Die EU stellt sich auf den Standpunkt, wenn Johnson eine geniale Idee auf den Tisch legt, dann schauen wir uns das an. Eine substanzielle Änderung des Vertrags hat sie aber eigentlich ausgeschlossen.
Auch gebe es noch immer keine Vorschläge, hiess es am Donnerstag. Worüber man am Mittwoch sechs Stunden lang mit Johnsons Brexit-Berater David Frost beraten habe? Verfahrensfragen. Ein Diplomat sprach von Frust bei den 27 EU-Staaten, und von wachsender Zeitnot. Man darf also annehmen, dass die EU im Londoner Machtkampf eher mit dem Unterhaus mitzittert und auf ein glimpfliches Ende hofft. Wobei alle offiziellen Sprecher dies mit Sicherheit «pure Spekulation» nennen würden.